aus der Schlinge

Sie hatten Thiele früh morgens aus Schlaf und Zelle gerissen. Heute sollte er hingerichtet werden. Sie würden ihn auf den Appellhof bringen und von dort in die kleine Todesgasse hinter Vorratsgebäude zwei. Maler stand aufrecht in seiner Zelle und schaute Thiele, als er vorbeigeführt wurde, direkt in die Augen. Mit Respekt und Traurigkeit. Thiele und Maler hatten sich noch nie gesehen, waren aber, wie sie hier die letzten anderhalb Jahre Zelle an Zelle verbracht und langsam dem Wahnsinn anheim gefallen waren, soetwas wie Freunde geworden.
„Na Thiele, Lust auf ne Partie Schach?“, hatte Maler morgens oft, eigentlich immer, gerufen und Thiele hatte dann auf seiner Seite der Wand die verschiedenen Steine, Knöpfe und Stofffetzen, die ihm als Figuren dienten, auf dem mit Filzstift auf den Boden gemalten Raster aufgebaut und gerufen: „Alles klar. Sag ne Zahl an!“
Und dann hatte Maler zurückgerufen: „138“ oder auch „44“ oder „90“ Immer mit diesem gewissen lauernden Ton. Dann war Thiele dran und musste mit der Zahl herausrücken, die er sich im Vorhinein überlegt hatte. War sie größer als Malers, dann fing Thiele das Spiel an, war sie kleiner, durfte Maler weiß spielen. Dann riefen sie sich über viele Stunden die Züge unzähliger Partien zu und verlebten so ihre Zeit im Todestrakt.
„Sag ne Zahl an!“, rief Thiele im vorbeigehen.
„112“
„Ich hatte die 1000. Da muss ich also als erster auf die Gasse.“
„Wir müssen da alle mal hin, Thiele. Ich bin nächste Woche dran.“
„Vielleicht spielen wir danach ja nochmal ne Partie.“
„Ja, bestimmt. Mach’s gut.“
Man musste Thiele lassen, dass er bis zum Schluss den Kopf hochhielt.

Und dann war er aus Trakt 4D verschwunden. Die anderen Häftlinge atmeten von nun an nur noch leise, warteten auf die unvermeidlichen Schüsse. Maler, der große starke Andre Maler, gar mit Tränen in den Augen. Doch die Schüsse erklangen nicht, den Thiele war vorher aufgewacht und so dem schrecklichsten Schicksal entronnen.
‚Was aber‘, dachte er beim Aufstehen, ‚ist mit Maler? Den knallen sie doch nächste Woche ab.‘

Wetterbericht XIII

19. September 2014
Die Orientierung dahin und in den Süden verstolpert. Kein Ziel. Kein Tag. Kein Jahr.

4. November
In einer Bäckerei steht plötzlich ein Mensch ohne Kopf vor mir. Dürre Beine, ein braun-karierter Mantel mit hohem Kragen. Dann nur noch Luft. Erst der Blick von der Seite enthüllt die grausige Wahrheit. Es handelt sich um ein Rollator-Ömchen, dessen Hals und Kopf um 90 Grad verrenkt sind.

5. November
Viele Tränen. Und auch der Wunsch danach. Jedoch: Keine Ohren zu hören, keine Augen zu sehen. Kurz: Niemand der mitfühlt. Ist es dann überhaupt geschehen oder nur Wunsch?