Traumtagebuch 21

Im Rahmen eines informatischen Studiums findet eine nächtliche Exkursion zum Hauptbahnhof statt. Die Professorin nimmt ein Blatt Papier und zerreißt es zunächst leicht schräg, längs in zwei Hälften. Danach zerreißt sie die beiden Hälften in jeweils acht etwa gleichgroße Stücke. Insgesamt hält sie nun also 16 viereckige Stücke Papier in Händen und ruft: „Jetzt stellen Sie sich mal vor, das wären die Züge hier. Rechnen Sie mal aus, wieviele Möglichkeiten es jetzt gibt, das Blatt wieder zusammen zu setzen. Dann sehen Sie, wie komplex so ein Bahnhof ist.“

Ich rechne eine Weile vor mich hin und komme zu dem Ergebnis, dass es wohl (2×8×4×2)! = 128! Möglichkeiten sein müssen. Der Versuch 128! auszurechnen erschöpft mich sosehr, dass ich aufwache.

128! (lies 128 Fakultät) ist das Produkt aller natürlichen Zahlen von 1 bis 128 also 1×2×3×4×…×128. Laut Internet entspricht dies der Zahl 385620482362580421735677065923463640617493109590223590278828403276373402575165543560686168588507361534030051833058916347592172932262498857766114955245039357760034644709279247692495585280000000000000000000000000000000. Ein schöner numerischer Ausdruck für die Komplexität meines Traumbahnhofs.

dreckiges Dutzend Sterne

Der Geruch von Schwefel liegt in der Luft, nachdem wir die alte Frau und ihren kleinen Enkel (ist es ihr Enkel?) niedergeschossen haben. Die alte Frau und ihren kleinen Enkel, die über die Schwelle kamen. Über die Schwelle unseres Hauses. Unseres Hauses, welches wir Jahrzehnte gepflegt haben. Unseres Hauses, das die Großeltern meiner Frau mit ihren eigenen Händen gebaut haben. In welchem sie Gäste empfangen haben, in welchem gelacht, gesungen und getanzt worden ist. Unseres Hauses, welches einmal unserem Sohn gehören soll.

Wir haben den Stacheldraht ausgerollt und Überwachungskameras installiert, Konserven gebunkert, die Fenster verrammelt. Wir haben die blaue Flagge eingeholt.

Jetzt sind Sie sicher entsetzt von uns. Weil wir die alte Frau und den kleinen Jungen erschossen haben. Und glauben Sie mir, ich bin auch noch ganz mitgenommen. Aber was hätten wir tun sollen. Die sind hier eingedrungen. In unser Haus. Wir sind gastfreundliche Leute, schon bei den Großeltern meiner Frau war es üblich, dass man Gäste empfing. Und man sagt, dass hier während des zweiten Weltkriegs sogar ein paar Juden versteckt worden seien. Sie sehen also, wir sind eine gastfreundliche Familie, wir haben keine Berührungsängste. Wir haben reagiert, wie wir reagiert haben, weil es um unseren Sohn ging. Man muss vorsichtig sein dieser Tage, man hört soviel. Das ist keine irrationale Angst, das sind berechtigte Sorgen.

Der Geruch von Schwefel liegt in der Luft, als unser kleiner Junge im Pyjama die Treppe herunterkommt. „Was ist denn los, Mama?“, fragt er meine Frau, er hat die Schüsse gehört. Rasch stelle ich mich vor die Toten, dass er soetwas nicht sehen muss. Aber es scheint bereits zu spät zu sein, ich sehe, wie eine Träne sein Gesicht hinabrinnt. Es sind dreckige Zeiten. Das hier ist die Schuld der Alten und des Jungen. Man muss solche Dinge tun, will man seine Familie schützen. Wir sind gastfreundliche, großzügige Menschen, aber man weiß nie, wer als nächstes in der Tür stehen könnte.

Traumtagebuch 19

Übernachtung im Thüringer Wald

Mitten in der Nacht erwache ich. Da steht ein kleines Kind im Eingang der Schutzhütte, in der D. und ich uns zur Ruhe gelegt haben. Als ich ein grimmiges Schnaufen höre, begreife ich: Es ist kein Kind, vielmehr ein wildes Tier, das da auf mich zustürmt.

Vollends zu mir gekommen, sehe ich nur noch den guten Mond, der da still und kalt durch den Eingang scheint. Vom anderen Ende der Hütte ist auch weiterhin D.s grimmig-schnaufendes Schnarchen zu hören.

immer voran

Es regnet, ist düster. Gewitterdüster. Die vor mir liegende Straße ist lang und das Wasser zieht tief in meine Schuhe. Meine schönen, schwarzen Wanderschuhe. Die Sohle taugt wohl nichts mehr. Meine Socken sind feucht und bei jedem Schritt schmatzt es. Pfp, pfäbb, immer durch die Pfützen. Mein Haar hängt klatschnass über die Schultern, mein Verstand, stimuliert vom ewigen gleichgleich des Weges, beginnt kataton zu spintisieren. Pfp, pfäbb, Pfütze, prasseln; Pfp, pfäbb, Pfütze, prasseln. Was wenn das jetzt auf immer so weiter geht, mein Geist sich in dieser Endlosschleife verliert? Wo ist eigentlich Alex geblieben? Es können Minuten, Stunden, Wochen vergangen sein. Vermutlich ist er voraus, vielleicht auch zurückgefallen; dann sehen wir uns nie wieder.
Der Regen wird stärker. Vermutlich hat sich der Joyce in meiner Anoraktasche inzwischen vollständig aufgelöst. Oder aber ist fortgeschwommen, weg, dahin. Ich denke an den Bruder. Und an die Eltern. Die sitzen jetzt irgendwo im Trockenen.

Es geht weiter voran. Die Landstraße hinab. Und irgendwo wird auch wieder die Sonne scheinen.

Wetterbericht XV

15. Juni 2015
Auf den Bus wartend befühle ich meine Zähne mit der Zunge. Hier fühle ich die flachen, breiten Mahlzähne. Wie beim in gemächlicher Ruhe grasenden Büffel; spüre den warmen Präriewind, schmecke die trockene Luft und das dichte Grün des unendlichen Gräsermeers. Doch da ist auch der glatte, spitze Eckzahn. Wildes Erbe jagender Ahnen, verschlagener, hinterlistiger Raubtiere. Einer sein, der die Lefzen in rohes noch von Leben bebendes Fleisch schlägt. Ich koste das satte Blutrot des Irdischen. Millionen Jahre Evolution hallen von allen Wänden tausendfach zurück.

17. Juni
David Prochnow: „Lebenslauf, der:“ (Blut und Salzwasser auf Knochen in Kiste, Entstehung: 1985 bis)

5. September
Die anstehende Sonnenumrundung stimmt mich nervös. Es ist zwar nicht die erste Reise dieser Art, doch mit jedem neuen Versuch steigt die Wahrscheinlichkeit auf einen letalen Ausgang der Operation.

Traumtagebuch 18

Gemeinsam mit M. und P. stehe ich vor einem schick aufgemotzten Güterwaggon. In die Seite des Waggons ist eine große Schaufensterscheibe eingelassen, darüber steht „Mobiles Küchenstudio“. M. weiß zu berichten, dass wir dieses Mirakel der Initiative eines progressiven CDU-Lokalpolitikers zu verdanken haben. Sogleich klettern wir auf den Waggon und sehen uns das Dach an.
Da fährt die Bahn an, M. und ich sitzen erschrocken da und drücken unsere Rücken mit der Fahrtrichtung gegen einen kleinen Vorsprung. P. ficht die plötzliche Bewegung der Bahn nicht an, er will noch ein Telefongespräch führen. M. und ich packen ihn bei den Schultern und halten ihn flach auf das Dach des immer schneller dahin rasenden mobilen Küchenstudios gedrückt.
Am nächsten Bahnhof springen wir rasch ab. Noch so eine Fahrt will keiner von uns mitmachen.