Wir hatten die letzten Monate vor allem mit Schachspielen vertrödelt. Nach dem Morgenappell und den folgenden drei Stunden Feld- und Hausarbeit war es uns freigestellt die Zeit so zu verbringen, wie es uns gefiel. Und da erstens in einem Lagerraum des Gefängnis‘ 120 noch verpackte Schachbretter samt Figuren lagerten (man weiß bis heute nicht wehalb), zweitens Jonas ein ambitionierter Schachspieler war und drittens ich selbst auch Interesse an der Materie entwickelt hatte, spielten wir nun Tag für Tag drei bis vier Partien. Es mag absurd klingen, aber diese Monate im Gefängnis gehörten für mich zu den glücklichsten meines bisherigen Lebens.
Das mag natürlich auch mit den blutigen Kriegsjahren zu tun gehabt haben, die wir alle zuvor durchlebt hatten. Jeder auf seine eigene Weise und sicher nicht jeder so hasenfüßisch zurückgezogen wie ich. Dennoch: Die Gefängnismauern, der entönige Alltag, das gab mir, und ich denke auch den anderen, ein Gefühl von Struktur und Sicherheit.
Jonas pflegte die Partien stets mit großer Gewissenhaftigkeit in ein kleines, grünes Notizbuch zu übertragen.
„Das veröffentlichen wir später mal“, sagte er dann immer und wir dachten uns für die einzelnen Spiele interessant klingende Titel aus. „Das Gefangenen-Dilemma“, „Eroberung der Nordwand“, „Unterklaus und Übersee“, „Das Ende des Weströmischen Reiches“. Der Band selbst würde den schlichten Titel „Meisterpartien – Tausendundeine Nacht in Gefangenschaft“ tragen.
Mit der Zeit wurden auch die anderen Gefangenen auf unseren Zeitvertreib aufmerksam.
Innerhalb weniger Wochen brach im Gefängnis
Das große Schachfieber von 2019
aus. Recht schnell breiteten sich zunächst die Grundregeln des Spiels bis in die kognitiv eher unterversorgten Baracken im Süd-Quartier aus. Menschen, denen ich zu meiner Zeit in der Anwaltskanzlei niemals zugetraut hätte auch nur einen Bauern richtig zu ziehen, entwickelten ungeahnten Ehrgeiz im Umgang mit Rössel und Dame. Es wurde rochiert und en passant geschlagen, als wenn es kein Morgen mehr gäbe. Gewagte Eröffnungen und unwahrscheinliche Endspiele wechselten sich ab.

Irgendwann verwettete einer der Karl hieß einen seiner Bauern. Damit ebnete er den Weg für eine bemerkenswerte Entwicklung, denn in seiner nächsten Partie musste er nun mit sieben Bauern antreten, von denen er einen weiteren verlor. Im Laufe des Tages verlor er auf diese Weise vier Bauern, doch dann wendete sich das Blatt. Todesmutig setzte Karl in der folgenden Partie seine Dame als Wetteinsatz. Da er mittlerweile nur noch so wenige Bauern auf dem Feld stehen hatte, dass nicht nur die Rössel frei standen, sondern auch die Läufer von Anfang an beweglich waren, gelang es ihm die Partie zu gewinnen. Karls Gegner fluchte und übergab Karl die Dame. Karl wiederum bot ihm nun an, die Dame gegen seine vier verlorenen Bauern und einen Springer zu tauschen, worauf der andere dankbar einging. Die folgenden Partien gewann Karl nun wieder und zum Schluss hatte er seinem Kontrahenten drei Leichtfiguren und zwei Bauern abgeluchst, die er ihm für etwas Tabak und zwei Seiten aus einem Pornoheftchen zurückverkaufte.
So kam es, dass Schachfiguren im Gefängnis gleichsam zur Währung wurden. Jeder war darauf bedacht zumindest zwei vollständige Sätze, schwarze und weiße Figuren, bereit zu halten, um falls er zum Duell gefordert wurde in voller Stärke antreten zu können. Eine Herausforderung abzulehnen galt als unschicklich.

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