hic sunt dracones

Wir hatten die letzten Monate vor allem mit Schachspielen vertrödelt. Nach dem Morgenappell und den folgenden drei Stunden Feld- und Hausarbeit war es uns freigestellt die Zeit so zu verbringen, wie es uns gefiel. Und da erstens in einem Lagerraum des Gefängnis‘ 120 noch verpackte Schachbretter samt Figuren lagerten (man weiß bis heute nicht wehalb), zweitens Jonas ein ambitionierter Schachspieler war und drittens ich selbst auch Interesse an der Materie entwickelt hatte, spielten wir nun Tag für Tag drei bis vier Partien. Es mag absurd klingen, aber diese Monate im Gefängnis gehörten für mich zu den glücklichsten meines bisherigen Lebens.
Das mag natürlich auch mit den blutigen Kriegsjahren zu tun gehabt haben, die wir alle zuvor durchlebt hatten. Jeder auf seine eigene Weise und sicher nicht jeder so hasenfüßisch zurückgezogen wie ich. Dennoch: Die Gefängnismauern, der entönige Alltag, das gab mir, und ich denke auch den anderen, ein Gefühl von Struktur und Sicherheit.
Jonas pflegte die Partien stets mit großer Gewissenhaftigkeit in ein kleines, grünes Notizbuch zu übertragen.
„Das veröffentlichen wir später mal“, sagte er dann immer und wir dachten uns für die einzelnen Spiele interessant klingende Titel aus. „Das Gefangenen-Dilemma“, „Eroberung der Nordwand“, „Unterklaus und Übersee“, „Das Ende des Weströmischen Reiches“. Der Band selbst würde den schlichten Titel „Meisterpartien – Tausendundeine Nacht in Gefangenschaft“ tragen.
Mit der Zeit wurden auch die anderen Gefangenen auf unseren Zeitvertreib aufmerksam.
Innerhalb weniger Wochen brach im Gefängnis
Das große Schachfieber von 2019
aus. Recht schnell breiteten sich zunächst die Grundregeln des Spiels bis in die kognitiv eher unterversorgten Baracken im Süd-Quartier aus. Menschen, denen ich zu meiner Zeit in der Anwaltskanzlei niemals zugetraut hätte auch nur einen Bauern richtig zu ziehen, entwickelten ungeahnten Ehrgeiz im Umgang mit Rössel und Dame. Es wurde rochiert und en passant geschlagen, als wenn es kein Morgen mehr gäbe. Gewagte Eröffnungen und unwahrscheinliche Endspiele wechselten sich ab.

Irgendwann verwettete einer der Karl hieß einen seiner Bauern. Damit ebnete er den Weg für eine bemerkenswerte Entwicklung, denn in seiner nächsten Partie musste er nun mit sieben Bauern antreten, von denen er einen weiteren verlor. Im Laufe des Tages verlor er auf diese Weise vier Bauern, doch dann wendete sich das Blatt. Todesmutig setzte Karl in der folgenden Partie seine Dame als Wetteinsatz. Da er mittlerweile nur noch so wenige Bauern auf dem Feld stehen hatte, dass nicht nur die Rössel frei standen, sondern auch die Läufer von Anfang an beweglich waren, gelang es ihm die Partie zu gewinnen. Karls Gegner fluchte und übergab Karl die Dame. Karl wiederum bot ihm nun an, die Dame gegen seine vier verlorenen Bauern und einen Springer zu tauschen, worauf der andere dankbar einging. Die folgenden Partien gewann Karl nun wieder und zum Schluss hatte er seinem Kontrahenten drei Leichtfiguren und zwei Bauern abgeluchst, die er ihm für etwas Tabak und zwei Seiten aus einem Pornoheftchen zurückverkaufte.
So kam es, dass Schachfiguren im Gefängnis gleichsam zur Währung wurden. Jeder war darauf bedacht zumindest zwei vollständige Sätze, schwarze und weiße Figuren, bereit zu halten, um falls er zum Duell gefordert wurde in voller Stärke antreten zu können. Eine Herausforderung abzulehnen galt als unschicklich.

wie

wie wir diese verdammte Mauer bauen, und den Wurmquell suchen, und Siedler von Catan und Risiko spielen, und du nicht glaubst, dass es die vereinigten Dienstleister gibt, und wie wir Regale kaufen, und eine Matratze, und wie deine blaue Lieblingstasse zerspringt, und wie ich 13 bin, und wie du streitest, und der vg, und dieser Pizzaladen, und Manolis, und wie ich in den Kaktus trete, und Dänemark, und Frankreich, und H3458, und Kling-Klang, und der Geruch nach Getreide, und immer diese Scheiß-Zigaretten, und wie genau das eine Motiv verschwindet, und wie ich seit Jahren das Booklet des weißen Albums bunkere, und wie ich dich anlüge, und wie du kein Geld hast, und wie du am 12. noch weiter wegziehst, und wie die Zeit umgestellt wird, und wie der Drache hereinkommt, und wie du krank wirst, und wie dein Knie schmerzt, und wie wir laufen und du eine richtige, mechanische Stoppuhr und rote Schuhe hast, und wie wir in Belgien sind, und wie wir uns streiten, und wie wir bei diesem Griechen sitzen, und wie du und alle immer duzen, und wie dieser Pöller umfällt, und wie du diese kleine Glaskugel mitbringst, und wie ich das alles nicht verstehe, und wie wir alle hinten im Wagen sitzen und Bücher werfen, und wie ihre Eltern da sind, und wie wir das Auto über die Baustelle schieben müssen, und wie Hayden nicht aufzufinden ist, und wie wir Chack suchen, und wie du Gitarre spielst, und wie du verdammt nochmal immer noch rauchst, und wie es immer Bücher sind, und wie du verschwindest und ich versage, und wie ich auf dem Dach gewesen sein muss, und wie es kein zu Hause mehr gibt, und wie ich das ein ums andere mal doch noch träume, und wie sie leidet, und wie dazwischen noch immer mehr ist.

Aus den Darklogs

I
Ich sitze in meinem Häuschen und bibbere ganz kläglich. Wunderlich ist’s draußen durch den Schnee zu sehn.

II
In der Autowaschanlage war es dunkel und trocken. So begegnete ich Zacharias.

Zacharias war von der Tankstelle herbestellt worden, die Autowaschanlage zu warten. Und während er die Autowaschanlage wartete, wartete ich draußen, im strahlenden Sonnenschein, vor der Autowaschanlage in meinem regengrünen Cabrio.

Später war die Autowaschanlage wieder dunkel und feucht und mein Cabrio, wie ich es so in die Autowaschanlage einfahren ließ, nahm üblen Schaden.

So ist das mit solchen Abenteuern. Am Ende ist eben immer doch ein bisschen mehr dabei, als nur einfach rein und wieder raus.

Zacharias, der zuvor die Waschanlage gewartet hatte, wartete jetzt draußen, vor der Autowaschanlage, im strahlenden Sonnenschein. Er lachte. Er lachte und lachte und hörte gar nicht mehr auf zu lachen. Da musste auch ich ein bisschen lachen, denn auch wenn mein Cabrio nun völlig durchnässt dastand, vermutlich nicht mehr zu retten sein würde, hatte ich doch einen Freund gefunden in dieser sonnendurchstrahlten, dunklen, feucht-trockenen, regengrünen Welt.

Dieser Freund hieß Zacharias.

III
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IV
Ähnlich ging es ihm auch mit Fischerle, dem garstigen Zwerg. Ihn würde er nicht so schnell wieder in die gute Stube lassen, hatte Fischerle beim letzten mal doch die ganze Milch weggesoffen und all die schönen Dinge, die seine Tochter Anika ihm vermacht hatte, in seiner (also Fischerles) großer Sport-Umhängetasche verschwinden lassen. Richtig böse konnte Jägerle Fischerle aber trotzdem nicht sein, dafür tauschten sie zu gerne lateinische Sprichwörter aus.

V
Gerade mal siebzehn Jahre bin ich alt gewesen, als mein Hund Zygote starb. Was hatte ich mir bloß bei diesem Namen gedacht?

Wie sollte ich ohne den alten Sennen weiterleben? Schiere Verzweiflung brach über mich herein.

Tränen des Widerstandes.

VI
Ich hatte den Hund Li schon länger nicht mehr gesehen. Als er mir nun an diesem Abend an der Ecke Gartenstraße/Beethovenstraße entgegen kam, wirkte er alt und abgekämpft. Sein Fell war struppig, wie von langem Kampf und seine Augen blickten unruhig die Straße entlang.

Er folgte mir die paar hundert Meter bis zu meinem Haus in der Beethovenstraße und tat dann was er noch nie getan hatte, er folgte mir weiter durch den Vorgarten und bis zur Tür. Als ich aufschloss setzte er sich mit fragendem Blick vor die Tür und erst als ich sagte: Komm ruhig rein, Li, folgte er weiter.

Li schlief von da an drei Nächte neben meinem Bett und ich brachte ihm Rührei und Speck und ein paar alte Kartoffeln.

Am vierten Tag schließlich ging er in den Garten, nahm Anlauf, sprang über die Hecke und verschwand.

Danach habe ich Li nie wieder gesehen.

VII
Kraniche kreuzten die Straße und machten sie damit zur Kreuzung.

Ein Luftweg und ein Landweg.

Kraniche kreuzten den Fluss und machten ihn damit zur Kreuzung.

Ein Luftweg und ein Wasserweg.

Brücke kreuzte den Fluss und machte ihn damit zur Kreuzung.

Ein Landweg und ein Wasserweg.

Kraniche sind abgestürzt. Alles wieder wie vorher. Nur die Brücke bleibt.

VIII
Dröge dunkelts in der Nacht. Schlaf noch immer Volksdroge Nr. 1.

IX
Hafenklänge die aus dem Keller emporstiegen verdampften mir die Ohren. Ständiges Hämmern und Tuten. Was für eine Welt war das bloß?

X
Man soll ja nicht immer nur über die anderen schimpfen. Heute ist einmal die Zeit gekomen schonungslose Kritik an mir selbst zu üben.

Mein Name lautet BM-NBqowzUp34f3Lpy8xrHurFSaucmdBBhv und ich bin Mandelhörnchen-Sammler. Manche behaupten gar, ich besäße die größte Mandelhörnchen-Sammlung diesseits der Wupper. Unter den Mandelhörnchen-Sammlern weltweit nehme ich damit wohl einen der vorderen Ränge ein.

Nun aber zur Kritik: Kürzlich habe ich ein Mandelhörnchen aus dem 97er-Jahrgang aufgegessen. Es lag in seiner Vitrine und funkelte mich an. Da schlug ich zu. Nun quält mich Stund um Stund die Frage: Was für ein Sammler bin ich eigentlich, dass ich meine eigene Sammlung vertilge?

XI
Blaue Grashalme allüberall, da wo die Ehrlichkeit wohnt bin ich nicht länger zu Hause.

XII
Kollaboration plus, sagte Winfried immer, ehe er Verrat beging. Winfried war ein echter Euphemist. Euphemist und Menschenschinder, so pflegte man bei uns zu sagen. Also ließ Winfried viele hunderttausend Menschen in die Gaskammern von Kabelstädt wandern. So auch meine Mutter, meinen Bruder und den Lebensgefährten meines Onkels Ulrich. Jahre später sollte ich Rache nehmen. Winfried ist nun tot.

Jahre später sollte ich Rache nehmen. Winfried ist nun Tod.

XIII
Einmalig.

XIV
Thomas hatte schon länger keine Frau mehr gehabt und so beschloss er das örtliche Bordell aufzusuchen. Was ihm hier geboten wurde, enttäuschte ihn aber. Lustlose Frauen mittleren Alters langweilten sich an der Bar, ein Typ der sich selbst „der Chef“ nannte und einen beigen Anzug trug, fuhrwerkte zwischen ihnen herum. Offensichtlich ein Stammkunde. Entsetzt verließ Thomas diese Lokalität wieder, ging nach Hause und onanierte.

Am nächsten Tag fuhr er in die große Stadt, die 200 Kilometer von seinem Wohnort entfernt war. Hier hatte Thomas viel Spaß , lernte eine nette Frau kennen, die er ehelichte und wenn sie nicht gestorben sind, dann sind sie inzwischen vermutlich wieder geschieden.

XV
Vergilbte Blätter säumten meinen Weg durch die Katakomben. Ein jedes erzählte seine Geschichte aus einem anderen Blickwinkel. Und es waren Myriaden.

Also begann ich die Geschichten rund um meinen verblichenen Kumpel Schiller zu lesen. Kein leichter Stoff.

XVI
Als ich erwache, sind um mich herum nur karge, graue Wände zu sehen. Ich weiß nicht, wie ich hierher gekommen bin, aber ich ahne, dass dies das Ende meines Lebens ist. Ich liege auf dem Rücken und entdecke dann, dass da Stift und Papier unter mir liegen. Welch perfides Experiment. Aber was soll ich sonst tun als zu schreiben? Ich bin ja doch nur ein Fremder auf diesem Planeten gewesen, einer der für einen kurzen Moment auf Urlaub hier ist und dann wieder da hin gehen muss, wo die ewige Plackerei stattfindet. Zumindest kann ich mir das jetzt so einreden, wo ich auf mein Leben, mein viel zu kurzes Leben, zurückblicke und sehe: Da ist nichts, worauf man stolz sein könnte. Grelles Neonlicht von der Decke. Ich trage meinen braunen Pullover. Den hab ich in meiner letzten Erinnerung nicht getragen. Meine letzte Erinnerung, das ist Anja, wie sie zu meiner linken tanzt, auf und ab hüpft wie ein kleiner Affe, so ausgelassen, so froh. Dumpfe Bässe, irgendwas Elektrisches, keine Ahnung wie man das nennt.

Ich friere etwas, Stunden müssen vergangen sein, vielleicht auch schon Tage. Man hat hier kein Gefühl. Aber ich werde schwächer, müder. Ich schlafe jetzt viel. Dein Gesicht, Anja, soll das letzte sein, das ich erinnere.

XVII
Dieses Erwachen aus einem Zitat, hinein in die weite, wilde Welt. Aus der Geborgenheit in die Brutalität.

So muss es sein geboren zu werden.

IXX
Ihre Sammlung vakuum-getrockneter Heringe hatte inzwischen unerfreuliche Ausmaße angenommen, weswegen sie nun die notwendigen Schritte zum Umzug in ein größeres Habitat einleitete.

Der Makler offerierte ihr keine rosig-zarten, streichel-feinen Wohnraum-Annoncen, als sie von ihrer Leidenschaft, ihrer Sammlung, ihrem EIN und ALLES berichtete. Ganz im Gegenteil schlugen ihr Hohn und Häme entgegen.

Da blieb sie doch in ihrem kleinen Häuschen wohnen und verkaufte die Kollektion bei ebay an einen wohlhabenden Sammler aus Augsburg.

XVIII
Tagelöhner hatten sie ihn geschimpft und ihm die Pfanne entrissen. Drei Tage Brotlohn dahin und keine Aussicht auf einen Platz zum Schlafen oder gar was für zwischen die Kiefer. Schnee fiel aus dichtem Wolkengestöber und Piedros Tränenflüssigkeit, die jetzt eigentlich dickperlend von seiner Hornhaut blättern sollte, gefror zu tausend wunderschönen Kristallen. Dunkelheit legte sich über seine Welt und bald umschloss ihn die kalte Feuchte des Winters, bald empfing ihn die herzlose Fäule des Todes.

XX

Wohingegen niemand behaupten soll, ich sei ein Drückberger gewesen, einer der dem Griff in die Kloschüssel zu entrinnen sucht. Mitnichten habe ich mich so je verhalten. Wenn es irgendwo Scheiße aus der Leitung zu holen galt, dann habe ich das auch gemacht.

Claus Tötenberg, 1917-1974

Eis

Das Bild zeigt einen zugefrorenen See im seitlichen Aufschnitt. Dicht unter der Oberfläche festgefroren sieht man die Leiche eines Mannes. Er trägt einen Anzug und seine Beine und Arme hängen schlaff nach unten. Dass er tot ist, erkennt man daran, dass seine Augen ausge-xt sind. Oberhalb des Eises sieht man Kinder beim Schlittschuhlaufen, sie tragen rote und grüne Anoracks, Mützen und Handschuhe. Im Hintergrund ist eine Ortschaft zu sehen, komplett mit Kirche und Bäcker und eingeschneitem Biergarten. Aus den Schornsteinen der Häuser steigt Rauch auf, durch ein Fenster sieht man eine strickende, alte Frau im Schaukelstuhl sitzen. Hinter ihr, ganz unscheinbar, sieht man ein kleines gerahmtes Bild hängen. Darauf ist die alte Frau mit dem Mann im Anzug zu sehen. Beide lachen. Vermutlich ist der tote Mann der Sohn der alten Frau, vielleicht das letzte Licht ihres Lebens. Vielleicht schmilzt das Eis bald, vielleicht ist die alte Frau dann schon gestorben, aus Sorge.

Fluchtpunkte

aus der Zelle ist ein Klopfen zu hören
wohl weil einer seinem Nachbarn Zeichen gibt
zu verschwinden.

manch eine Pfütze sieht dabei himmelblau aus
und alles spiegelt sich. die Welt ist doppelt.
also schreiben.

das macht uns fürchten vor dem nächsten Tagwerk.
was wenn sich dann auch alles doppelt verhält?
Gefangenschaft?

Der Wesir mit den roten Haaren

Der König trug ein Kleid von feinstem Celophan und einen Aluminiumhut, der seine Gedanken vor der Satellitenstrahlung fremder Mächte schützen sollte. Auch sein Wesir, der in einen grauen Anzug aus Nylonfasern gehüllt war, trug einen solchen Hut.
Gemeinsam gingen die beiden durch die langen, sonnendurchfluteten Gänge des hoheitlichen Palastes. Kein Staubkorn gab es hier, so rein, so sauber war alles. Und die Gärten solltest du ersteinmal sehen. Riesige Springbrunnen mit Wassern in allen Farben des Regenbogens wurden hier von Sklaven aus aller Herren Ländern mit Hilfe von pneumatischen Pedalgelenken betrieben. Palmen wuchsen am Strand und wer wollte, der mochte in den Skilift nahe dem Fichtenwald steigen und wurde durch ein Rohrpostsystem auf den höchsten Wipfel des nahen Kalbsdarmgebirges gehievt, von wo er hinabrodeln oder -skilaufen konnte.
„Was soll ich bloß mit meinem ganzen Reichtum?“, fragte der König den Wesir, denn die Herrlichkeiten ödeten ihn an.
Der Wesir, der rote Haare und auch sonst einen schlechten Charakter hatte, sagte: „Dankt ab, König, und veranstaltet eine Lotterie unter all Euren Untertanen, wer Euch beerben soll!“
Das gefiel dem König und er ließ eine Million Rubbellose in der Palastdruckerei fertigen, denn soviele Bürger gab es im Reich des gelangweilten Königs.
„Lass proklamieren“, sagte er zu seinem Wesir, „dass derjenige der oder dessen Eheweib das Los mit den drei Kronen in einer Reihe freirubbelt, der neue König des ganzen Landes sein soll. Ich ziehe mich ins Exil zurück und widme mich der Schmetterlingsforschung.“

Und so geschah es, dass die königliche Post eine Nacht und einen Tag Sonderschichten fuhr und Rubbellose im ganzen Land verteilte. Der Wesir indes stand auf der höchsten Zinne des königlichen Schlosses und rieb sich die Hände. Denn natürlich hatte er das Gewinnerlos schon im Laufe des Druckprozesses an sich genommen und hielt es nun in der rechten Innentasche seines Morgenmantels verborgen. Seine roten Haare glitzerten im Licht des Mondes und zeugten von seiner hinterhältigen Gesinnung. Von Anfang an hatte er den König in dieser Sache falsch beraten und nun stand er kurz vor dem Thron. Unten im Garten strampelten sich die Sklaven an den pneumatischen Brunnenanlagen ab.

Bald waren alle Lose verteilt und um Punkt zwölf Uhr Mittags rubbelte das Volk in den Amts- und Wirtsstuben, in den Berg- und Backwerken los, als ginge es ums Leben. Auch der Wesir rubbelte, im Schatten einer großen Kokospalme sein Los frei. Drei Kronen in einer Reihe. So eine Überraschung.
Als er das dem gelangweilten König zeigte, staunte der nicht schlecht und sagte dann: „Herzlichen Gückwunsch, mein lieber Wesir, einen besseren als dich könnte ich mir auf dem Thron kaum denken.“ Dann zog der König seinen herrlichen, purpurroten Celophanbademantel aus, tauschte ihn gegen den einfachen grauen Morgenmantel des Wesirs, übergab dem auch noch seinen Aluminiumhut und den königlichen Zahnstocher und zog sodann, so leichtfüßig wie noch nie in seinem Leben, in die Welt hinaus. Der Wesir wurde König. Kein guter, aber auch kein schlechter, sondern ein rothaariger. Eine Moral von der Geschichte gibt es nicht.

Noch keinen Sommer

Drei Menschen sitzen auf einer Parkbank. Einjeder trägt einen schweren Helm aus Plastik, Plexiglas und Schaumstoff. Mit einem Mal fangen alle drei Feuer und rennen schreiend auf und ab. Was ist geschehen?
Altpersisches Lateral

Wir hatten den ganzen Abend und die halbe Nacht über dem Tricktrack-Brette vergrübelt, um danach in intensiven, traumlosen Schlaf zu sinken. Als ich am nächsten Morgen erwachte war sie bereits gegangen. Das Geld legte ich also auf die Fensterbank und ging auf die Walz.
Oh nun, hier im Regionalexpress von Minden nach Paderborn, fühlte ich mich endlich wie ein rechter Mann. Was mir an Respekt fehlte, wusste ich anderweitig auszugleichen, denn die Taschen hatte ich voll Klimpergeld.
So zog ich also Woche um Woche, Monat um Monat herum. Lernte hier Neues, vergaß dort Altes und hatte zu guter Letzt eine dieser durchschhnittlich-drögen, deutschen Bildungsromanzen hinter mir, wie sie eh und je kanonisiert worden sind. Einzig das Glück fand ich nie wieder so, wie an jenem Abend beim Tricktrackspiel mit der schönen Hannah, auch in späteren Jahren nicht. Dass dies so vergängliche, so flüchtige Vergnügen ein bezahltes war tut der Sache, denke ich, keinen Abbruch, denn ob so oder anders: Die Jugend schöpft die Zuversicht doch stets aus der Zukunft. Zumindest habe ich das immer geglaubt.
So habe ich mich nun dazu durchgerungen sie wieder zu suchen.

Die Gassen meiner Heimatstadt sind so eng und verwunden wie schon vor 30 Jahren. Torbögen, Efeuranken, das ganze kleinbürgerliche Gedöns. Freude bereitet mir einzig ein Schwalbennest in der Burgmauer am Westfalengraben. Es ist gleich am Gehsteig und man kann die kleinen Köpfe der Jungvögel sehen, wie sie voll Neugier in die Welt blicken.
Zwei Straßen weiter entdecke ich die Schwalbenmutter blutend im Rinnstein. Vermutlich von einer Katze totgebissen und liegengelassen. Ich bereite ihrem Leid mit meinen schweren Stiefeln ein, wie man so sagt, Ende.
Auf dem Weg zum Café Mondaine muss ich immerzu an die kleinen Schwalbenjungen denken, die jetzt in ihrem lehmigen Nest in der Burgmauer hocken und schreien. Das Mondaine wird immer noch von Elsa betrieben, einer dicken Hauswirtschafterin, die sich sogar noch an mich erinnert: „Hab nie wieder so’n unsicheres Bürschchen jesehen wie dich.“, lacht sie, „Hast dich aber jut jemacht.“ Sie erinnert sich auch noch an Hannah. Natürlich tut sie das:

Zwei Wochen nach ihrem 18. Geburtstag packt Hannah ihre kompakte aber geräumige Reisetasche und lässt ihre von dieser Situation überforderten Eltern zurück. Als sie im Café Mondaine aufschlägt, weiß Elsa zunächst nicht, was sie mit ihr anfangen soll. Ja, sie ist ein hübsches Mädchen, aber auch zart und unberüht. Ist das hier das Richtige für sie? Zwei Wochen vergehen und dann tauche ich auf. Ein „unsicheres Bürschchen“ und Elsa sagt: „Mit dem kannst du’s mal versuchen. Danach sehen wir weiter.“
Danach sehen die beiden weiter und Hannah arbeitet noch ein Jahr im Café Mondaine. Dann kommt ein nicht ganz so unsicherer Gast. Sie gehen in eben das Zimmer, in dem auch ich mit ihr gewesen bin. Zwei Stunden später geht der Gast und Hannah ist tot. Den Kerl haben sie nie gekriegt.

Ich bin erschüttert als ich die Geschichte höre. In fremden Gedanken gehe ich durch den Frühlingsabend den selben Weg zurück den ich gekommen bin. Als ich wieder an dem Schwalbennest vorbeikomme bleibe ich stehen. Die Kleinen, denke ich, haben keine Chance. Also breche ich den Verputz des Nestes auf, schnappe mir die panisch quietschenden Küken und stopfe sie in meine Manteltasche. Vielleicht kann ich sie großziehen, bis zum Sommer. Danach werde auch ich gehen können.