Noch keinen Sommer

Drei Menschen sitzen auf einer Parkbank. Einjeder trägt einen schweren Helm aus Plastik, Plexiglas und Schaumstoff. Mit einem Mal fangen alle drei Feuer und rennen schreiend auf und ab. Was ist geschehen?
Altpersisches Lateral

Wir hatten den ganzen Abend und die halbe Nacht über dem Tricktrack-Brette vergrübelt, um danach in intensiven, traumlosen Schlaf zu sinken. Als ich am nächsten Morgen erwachte war sie bereits gegangen. Das Geld legte ich also auf die Fensterbank und ging auf die Walz.
Oh nun, hier im Regionalexpress von Minden nach Paderborn, fühlte ich mich endlich wie ein rechter Mann. Was mir an Respekt fehlte, wusste ich anderweitig auszugleichen, denn die Taschen hatte ich voll Klimpergeld.
So zog ich also Woche um Woche, Monat um Monat herum. Lernte hier Neues, vergaß dort Altes und hatte zu guter Letzt eine dieser durchschhnittlich-drögen, deutschen Bildungsromanzen hinter mir, wie sie eh und je kanonisiert worden sind. Einzig das Glück fand ich nie wieder so, wie an jenem Abend beim Tricktrackspiel mit der schönen Hannah, auch in späteren Jahren nicht. Dass dies so vergängliche, so flüchtige Vergnügen ein bezahltes war tut der Sache, denke ich, keinen Abbruch, denn ob so oder anders: Die Jugend schöpft die Zuversicht doch stets aus der Zukunft. Zumindest habe ich das immer geglaubt.
So habe ich mich nun dazu durchgerungen sie wieder zu suchen.

Die Gassen meiner Heimatstadt sind so eng und verwunden wie schon vor 30 Jahren. Torbögen, Efeuranken, das ganze kleinbürgerliche Gedöns. Freude bereitet mir einzig ein Schwalbennest in der Burgmauer am Westfalengraben. Es ist gleich am Gehsteig und man kann die kleinen Köpfe der Jungvögel sehen, wie sie voll Neugier in die Welt blicken.
Zwei Straßen weiter entdecke ich die Schwalbenmutter blutend im Rinnstein. Vermutlich von einer Katze totgebissen und liegengelassen. Ich bereite ihrem Leid mit meinen schweren Stiefeln ein, wie man so sagt, Ende.
Auf dem Weg zum Café Mondaine muss ich immerzu an die kleinen Schwalbenjungen denken, die jetzt in ihrem lehmigen Nest in der Burgmauer hocken und schreien. Das Mondaine wird immer noch von Elsa betrieben, einer dicken Hauswirtschafterin, die sich sogar noch an mich erinnert: „Hab nie wieder so’n unsicheres Bürschchen jesehen wie dich.“, lacht sie, „Hast dich aber jut jemacht.“ Sie erinnert sich auch noch an Hannah. Natürlich tut sie das:

Zwei Wochen nach ihrem 18. Geburtstag packt Hannah ihre kompakte aber geräumige Reisetasche und lässt ihre von dieser Situation überforderten Eltern zurück. Als sie im Café Mondaine aufschlägt, weiß Elsa zunächst nicht, was sie mit ihr anfangen soll. Ja, sie ist ein hübsches Mädchen, aber auch zart und unberüht. Ist das hier das Richtige für sie? Zwei Wochen vergehen und dann tauche ich auf. Ein „unsicheres Bürschchen“ und Elsa sagt: „Mit dem kannst du’s mal versuchen. Danach sehen wir weiter.“
Danach sehen die beiden weiter und Hannah arbeitet noch ein Jahr im Café Mondaine. Dann kommt ein nicht ganz so unsicherer Gast. Sie gehen in eben das Zimmer, in dem auch ich mit ihr gewesen bin. Zwei Stunden später geht der Gast und Hannah ist tot. Den Kerl haben sie nie gekriegt.

Ich bin erschüttert als ich die Geschichte höre. In fremden Gedanken gehe ich durch den Frühlingsabend den selben Weg zurück den ich gekommen bin. Als ich wieder an dem Schwalbennest vorbeikomme bleibe ich stehen. Die Kleinen, denke ich, haben keine Chance. Also breche ich den Verputz des Nestes auf, schnappe mir die panisch quietschenden Küken und stopfe sie in meine Manteltasche. Vielleicht kann ich sie großziehen, bis zum Sommer. Danach werde auch ich gehen können.

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