Traumtagebuch 22

Es findet ein großes Rennen statt. Die Teilnehmer fahren Motorräder, Renn- und Geländewagen. Ich nehme als einziger mit dem Fahrrad teil.

Die Strecke führt einen sandigen Weg entlang, der sich durch ein Getreidefeld schlängelt. Überraschender Weise liege ich noch nicht zurück. Plötzlich geraten erste Fahrzeuge von der Strecke ab, die Autos und Motorräder pflügen durch das Getreide. Auf der anderen Seite des Feldes stürzen sie in einen Abgrund.

Vor lauter Schreck setze ich mich an den Straßenrand und mache erstmal ein Nickerchen. Es wird dunkel und dicke, fette Kanalratten kommen heran. Sie kriechen mir in die Hose und den Pullover. Ich wälze mich nach links und rechts, um die schrecklichen Wesen zu zerquetschen, ich packe und würge eines, doch da ist es bloß die Wärmflasche.

Unkünstlerische Sprichwörter I

„Ein Kaninchen über den Harz tragen.“

Erklärung:
Eine vollkommen sinnlose, aber sehr anstrengende Tätigkeit vollführen.

Beispiel:
Tobias baut eine fünf Meter hohe Buck-Rogers-Stahlebton-Statue in den Innenhof. Da könnte er auch gleich ein Kaninchen über den Harz tragen.

Herkunft:
Das Sprichwort gehört in die Kategorie der selbstevident-experimentellen Unkunst. Im Jahr 2009 sollen die Unkünstler Oma Kack und Spinnenbein eine Expedition quer durch den Harz unternommen und dabei permanent ein Kaninchen namens Lüder mit sich geführt haben, um dieses neue Sprichwort zu schaffen. „Q.e.d.“, soll Oma Kack zum Abschluss gerufen haben, ehe er scheintot auf dem Bahnhofsvorplatz von Thale zu Füßen des lokalen Prinzen niedersank.

Wetterbericht XVI

22. September 2015

Dunkelheit. Der nasse Asphalt gleitet unter meinen bloßen Füßen dahin. Ich bedaure, nicht den lichten Abzweig geschritten zu sein.

22. September 2015

Der heiße Sand brennt zwischen meinen Fingern, Schweiß rinnt mir in den Nacken und ich sehne mich nach jenem dunklen Pfad, den ich nie gegangen bin.

26. Oktober

Es ist doch seltsam, wie es immer nur das Elend ist, das mich voran zu peitschen vermag. Freilich treibt es mich immer nur im Kreis.

6. November

Die ganze Nacht Neuronengewitter.

Traumtagebuch 21

Im Rahmen eines informatischen Studiums findet eine nächtliche Exkursion zum Hauptbahnhof statt. Die Professorin nimmt ein Blatt Papier und zerreißt es zunächst leicht schräg, längs in zwei Hälften. Danach zerreißt sie die beiden Hälften in jeweils acht etwa gleichgroße Stücke. Insgesamt hält sie nun also 16 viereckige Stücke Papier in Händen und ruft: „Jetzt stellen Sie sich mal vor, das wären die Züge hier. Rechnen Sie mal aus, wieviele Möglichkeiten es jetzt gibt, das Blatt wieder zusammen zu setzen. Dann sehen Sie, wie komplex so ein Bahnhof ist.“

Ich rechne eine Weile vor mich hin und komme zu dem Ergebnis, dass es wohl (2×8×4×2)! = 128! Möglichkeiten sein müssen. Der Versuch 128! auszurechnen erschöpft mich sosehr, dass ich aufwache.

128! (lies 128 Fakultät) ist das Produkt aller natürlichen Zahlen von 1 bis 128 also 1×2×3×4×…×128. Laut Internet entspricht dies der Zahl 385620482362580421735677065923463640617493109590223590278828403276373402575165543560686168588507361534030051833058916347592172932262498857766114955245039357760034644709279247692495585280000000000000000000000000000000. Ein schöner numerischer Ausdruck für die Komplexität meines Traumbahnhofs.

dreckiges Dutzend Sterne

Der Geruch von Schwefel liegt in der Luft, nachdem wir die alte Frau und ihren kleinen Enkel (ist es ihr Enkel?) niedergeschossen haben. Die alte Frau und ihren kleinen Enkel, die über die Schwelle kamen. Über die Schwelle unseres Hauses. Unseres Hauses, welches wir Jahrzehnte gepflegt haben. Unseres Hauses, das die Großeltern meiner Frau mit ihren eigenen Händen gebaut haben. In welchem sie Gäste empfangen haben, in welchem gelacht, gesungen und getanzt worden ist. Unseres Hauses, welches einmal unserem Sohn gehören soll.

Wir haben den Stacheldraht ausgerollt und Überwachungskameras installiert, Konserven gebunkert, die Fenster verrammelt. Wir haben die blaue Flagge eingeholt.

Jetzt sind Sie sicher entsetzt von uns. Weil wir die alte Frau und den kleinen Jungen erschossen haben. Und glauben Sie mir, ich bin auch noch ganz mitgenommen. Aber was hätten wir tun sollen. Die sind hier eingedrungen. In unser Haus. Wir sind gastfreundliche Leute, schon bei den Großeltern meiner Frau war es üblich, dass man Gäste empfing. Und man sagt, dass hier während des zweiten Weltkriegs sogar ein paar Juden versteckt worden seien. Sie sehen also, wir sind eine gastfreundliche Familie, wir haben keine Berührungsängste. Wir haben reagiert, wie wir reagiert haben, weil es um unseren Sohn ging. Man muss vorsichtig sein dieser Tage, man hört soviel. Das ist keine irrationale Angst, das sind berechtigte Sorgen.

Der Geruch von Schwefel liegt in der Luft, als unser kleiner Junge im Pyjama die Treppe herunterkommt. „Was ist denn los, Mama?“, fragt er meine Frau, er hat die Schüsse gehört. Rasch stelle ich mich vor die Toten, dass er soetwas nicht sehen muss. Aber es scheint bereits zu spät zu sein, ich sehe, wie eine Träne sein Gesicht hinabrinnt. Es sind dreckige Zeiten. Das hier ist die Schuld der Alten und des Jungen. Man muss solche Dinge tun, will man seine Familie schützen. Wir sind gastfreundliche, großzügige Menschen, aber man weiß nie, wer als nächstes in der Tür stehen könnte.