Kroko

Früher, ehe alle Uhren hatten und per Funkverbindung mit der Außenwelt in stetem Kontakt standen, früher also, da hat man die Leute auf offener Straße um die Zeit angebettelt. Mir war das nie angenehm, wenn da wieder so ein Zerlumpter ankam und schnarrend schnorrte: „Haste mal die Zeit?“

Nur widerwillig hob ich dann den Arm und ließ den Uhrzeitlosen das Ziffernblatt meines blitzenden Chronometers ablesen, um ihn dann rasch wieder unter den Ärmeln von Wams und Jäcklein verschwinden zu lassen. Zugegeben: Die Uhrzeit war und ist eine flüchtige Information und ich halte es für unwahrscheinlich, dass irgendeiner der Schnorrer von damals durch Weitergabe und Kopie der erbettelten Uhrzeiten nennenswerte Gewinne gemacht hat. Dennoch: In früheren Zeiten war es durchaus üblich, die genaue Uhrzeit zu verkaufen. Kleine hutzlige Weiblein, die die exakte Zeit am Observatorium eingeholt hatten, zogen von Haus zu Haus und boten die Uhrzeit feil. Ich wette, damals wäre niemand auf die Idee gekommen, die teuer erstandene Uhrzeit einfach so anderen mitzuteilen. Nicht nur wusste man damals den Wert des erworbenen Informationsvorsprungs noch zu schätzen, nein man hatte auch ein Gefühl dafür, dass man den alten Zeit-Hausiererinnen durch illegitime Weitergabe und insofern Raubkopie der Uhrzeit das Geschäft verdorben hätte.

Noch heute ist es unter guten Freunden oder Familienmitgliedern üblich, nach Uhrzeit oder sogar Wochentag und Datum zu fragen. Ich habe nichts dagegen, solche Informationen im engen Kreise zu teilen. Ohne Weiteres kann soetwas zur Vertrauensbildung beitragen, alle Beteiligten wissen, dass man es hier mit einem reziproken Tauschwert zu tun hat. Ähnlich, wie wir Freunden nur deshalb beim Umzug helfen, weil wir wissen, dass sie uns früher oder später auch werden helfen müssen, teilen wir Zeitsignale auch nur deshalb, weil wir mit entsprechenden Gegenleistungen rechnen.

Einmal, Ende der 90er-Jahre, war ich mit meinem alten Kumpel Kroko unterwegs. Es war früher Nachmittag im Herbst, als ein offensichtlich zeitinsolventes Individuum auf uns zukam und allen Ernstes fragte: „Welches Jahr haben wir?“ Eine Ungeheuerlichkeit und wohl in etwa das Äquivalent zur Frage: „Hammse mal nen Hunderter?“ – Soetwas fragte und fragt man nach wie vor nicht und ich kann bis heute nicht glauben, dass Kroko dem Mann tatsächlich das Jahr ansagte. Ich finde soetwas obszön und abstoßend, habe Kroko aber nie gesagt, wie ich das empfand und nun ist er tot und ich bin immer öfter allein.

So allein, dass ich manches mal in der Nacht für 20 Cent die Zeitansage anrufe und mir von sanfter Stimme die auf zehn Sekunden genaue Uhrzeit zusäuseln lasse: „Beim nächsten Ton ist es 22 Uhr 21 Minuten und 20 Sekunden“ – piep – „Beim nächsten Ton ist es 22 Uhr 21 Minuten und 30 Sekunden“ – piep.

Ich fühle mich schlecht dabei, diesen kostenpflichtigen Dienst zu nutzen, wie so ein Telefonsex-Kunde. Aber was soll ich sagen: Es ist dann doch stärker als ich und ich rufe die Automatenzeit an. Anständiger, als irgendwelche Leute auf der Straße anzuquatschen ist es auf jeden Fall, denke ich mir und lausche auf den nächsten Ton.