Lesestunde

Der Himmel hatte die Farbe von kaltem Haferbrei.

Ronco – Der Geächtete, Heft 86, Dezember 1973

Der Abend war gesellig, das Publikum in einen zufriedenen Zustand kognitiven Stand-Bys verfallen. Die Stimmen der Lesenden drangen nur noch dumpf, wie durch schwarze Watte zu ihnen vor. Kurzum: Es war wie eine sechste Stunde Latein.

Die schwermütige Dichterin aus dem Vorort hatte bereits ihre hyperkatalektischen Hexameter voller Tod und Verderben über die Lauschenden gebracht, der nervöse, ephebische Tagebuchschreiber seine Erlebnisse und politischen Ansichten der letzten Wochen vorgetragen.

Und nun war der Typ mit dem unordentlichen Haar und der löchrigen Hose vorgetreten und begann einen unverständlichen Meta-Text über das Wesen solcher und ähnlicher Veranstaltungen vorzulesen. Zu lange, verschachtelte Sätze, unverständliche Xenismen (also Fremdwörter). Das Wort hyperkatalektisch hallte in den müden Hirnwindungen der Zuhörenden nach. Kein Mensch verstand, was dieser Cretin ihnen da zumutete. In den vorderen Reihen, wo man mit dem abstoßenden Äußeren des widerwärtigen Schreiberlings besonders direkt konfrontiert war, entwickelten sich rasch erste Anzeichen von Verachtung. Aus zivilisatorisch-gesellschaftlichen Gründen manifestierten die sie sich zunächst bloß in ungeduldigem Füßescharren. Der Lesende sah von seinem Blatt, an dem er sich bislang nervös festgehalten hatte, auf und blickte in Richtung des Scharrenden.

Missbilligend rümpfte er die Nase und versuchte dann sich wieder im Text

zurechtzufinden. Eine unnötige, die allgemeine Stimmung weiter vergiftende Pause entstand.

„Wie lang das wohl noch geht?“, murmelte in einer der hinteren Reihen eine junge Frau ihrer Begleiterin zu.
„Er scheint noch ein paar Seiten zu haben.“
„Bäh. Hoffentlich hat er viele kurze Dialogzeilen drin.“
„Ja, dann ist es weniger lang.“
„Und was soll eigentlich ephebisch heißen?“

Die beiden waren eigentlich nur hier, um die hyperkatalektischen Gedichte ihrer Freundin Marion, der schwermütigen Dichterin wohlfeiler Reime wie Tod auf Brot, Fest auf Pest oder Schandtat auf Pfandautomat, anzuhören.

Eigentlich konnten die beiden Marion auch nicht besonders leiden und verachteten auch ihre Schreibkunst aus tiefstem Herzen. Doch sie gehörten nun einmal einem gemeinsamen sozialen Zirkel an und waren zu einem unglückseligen Zeitpunkt in der Vergangenheit einmal Marions Einladung zu einem „Dichterinnen-Abend“ gefolgt. Und nun brachte keine von ihnen es über sich, ihr einmal deutlich zu sagen, was sie von ihren ungelenken Hexametern hielten, weshalb Marion sie nun bei jeder sich bietenden Lesegelegenheit ins Publikum zwangsrekrutierte.

Die Ablehnung von Text und Autor in den vorderen Reihen war inzwischen deutlich spürbar. Ein dem Schreiberling zumindest flüchtig bekanntes Pärchen in der dritten Reihe stand auf und steuerte die Theke im hinteren Bereich des Raumes an. Es war klar, dass sie nach einer Möglichkeit suchten, sich ungestört zu unterhalten und dem Ort des Geschehens rechtzeitig zu entfliehen, um nach der Lesung möglichem Smalltalk mit dem Vortragenden auszuweichen.

Der wiederum beschäftigte sich in seinem kruden Metatext indes mit der Publikumsbeledigung, einer Kunst, die er offenkundig nicht beherrschte. Von der Metaphorik des Textes angestachelt, breiteten sich Verachtung und Hass metastasenartig, gleich einem Wurzelwerk oder Rhizom aus. Der Scharrende aus der ersten Reihe war der erste, der sich lautstark Luft machte: „Nun gib endlich Ruhe, du Penner!“

Eine grauhaarige Frau im hinteren Teil des Raums warf eine Bierflasche in Richtung des Vorlesenden. Sie schlug auf dem Boden auf, Scherben und ein schaler Schoppen Maurerbrause verteilten sich. Ein voluminöser Herr von diesem buchstäblichen Bruch gesellschaftlicher Norm angestachelt, stand auf und schlug dem Lesenden ins Gesicht, sodass dieser zu Boden ging. Eine weitere Bierflasche, irgendwo aus der Tiefe des Raums geworfen, traf den Voluminösen am Hinterkopf. Der Mann drehte sich um und warf wiederum seine eigene Flasche in Richtung desjenigen Mannes, den er für die Ursache des vorangegangenen Wurfes hielt. Er traf eine kleine Frau mit apoplektisch asymmetrischen Gesichtszügen an der Schläfe.

Hass und Wut gerieten zusehends außer Kontrolle. Der eben noch so gleichgültig-gemütliche Leseabend glich immer mehr einem AfD-Parteitag.

Der Autor hatte sich indes wieder auf die Beine gekämpft. Tapfer setzte er an, seinen Text weiter vorzutragen. In einer den Tod seines Meta-Autors antizipierenden Prolepse verwendete er den Begriff „kranial“, was empörte Buhrufe aus dem Publikum evozierte.

„Kranial? Prolepse? Evozieren? Antizipieren? Red mal normal!“, schrie, von der allgemeinen Eskalation aufgestachelt, eine der Freundinnen der schwermütigen Dichterin. Zustimmungsrufe aus verschiedenen Ecken hallten durch den Raum.

„Wehe, wehe, wenn ich auf das Ende sehe!“, rezitierte mit dramatischer Stimme die Hyperkatalektikerin.

Der Begleiter der kleinen Apoplektikerin, ein dürrer Herr mit Glatze und kleinkariertem Hemd, kämpfte sich nach vorne, um vom Voluminösen Genugtuung, für das seiner Begleitung zugefügte Leid, zu fordern. Dabei trat er einem Schäferhund, der neben dem Stuhl seiner Besitzerin lag, auf den Schwanz. Das Tier biss dem Begleiter der Apoplektikerin ins Bein. Seine Besitzerin versuchte ihn festzuhalten, doch der Hund riss sich los und stürmte aufgeregt durch den Raum.

Mittlerweile drängte, in der Hoffnung die Situation durch große, dramatisch vorgetragene Lyrik begleiten zu können, auch die hyperkatalektische Dichterin wieder nach vorne und setzte zum halbimprovisierten Vortrag an. Der ephebische Tagebuchschreiber, nervös-bebend in einem kleinen Sessel am Rande des Raums sitzend, hatte sein Notizbüchlein gezückt und schrieb auf, soviel er erfassen konnte. Der Autor mit der löchrigen Hose stieß die Dichterin in Richtung des Schäferhundes. Der wich ihr aus und stürzte auf den abstoßenden Schreiberling zu. Jener riss erschrocken die Arme in die Höhe, konnte das auf ihn zueilende canine Ungetüm aber nicht abwehren. Mit einer kranialen Bewegung in Richtung Maul, versuchte er sich vergeblich in den Hals des Tiers zu krallen.

Nun war das Monstrum über ihm und riss sein schreckliches Maul auf. Lohfarbener Faulodem, falbe Lefzen, blutdurstig, fleischhungrig. Es biss zu, wieder und wieder.

Der Autor mit dem unordentlichen Haar war tot. Die Hyperkatalektikerin schleppte sich einmal noch nach vorn, apathisch-elegisch legte sie alle verbleibende Kraft in ihre Stimme und sprach: „Tot! Tot wie Brot!“

Der Epehebe bebte. Der Hass verhallte.

Und noch immer hatte der Himmel die Farbe von kaltem Haferbrei.