Im Mai

Ein Baum, eine Seele, ein Stein und ein Mensch stehen an einer Bushaltestelle und rauchen Krebsfleisch aus Nussschalen. Ihre Haare hängen zottig über ihre Schultern und einer singt ein Lied.Wenn ich das so sehe muss ich fast ein wenig schmunzeln, begreife dann aber, dass das ich bin, der Baum, die Seele, der Stein und der Mensch.Wolken ziehen über den bislang makellos-blauen Himmel und im Vierklang rufe ich einen Namen aus.
Brennend stürzen die Flügel dahin, sie schmelzen.

Der Affe im System

In einer düsteren Spelunke. Er stand. Die Augen an die Schatten gewöhnend: Hinter dem Tresen ein großer Affe im fleckigen T-Shirt, Gläser spülend, kahler Schädel.
Er trat zu ihm hin und fragte: »Ist das denn legal, dass einer wie Sie hier ausschenkt?«, dabei legte er ein blaues, laminiertes Kärtchen vor sich hin. Der Affe blickte darauf; lange, mit müden Augen. Fast mochte man annehmen, dass er soetwas wie Gefühle besaß. Er trocknete das Glas, das er gerade in Händen hielt noch ab, stellte es auf dem Bord hinter sich ab und sagte langsam: »Warrten Sie, ich hole nurr meine Sachen, dann komme ich mit.« Der Inspektor nickte, setzte sich auf einen der Barhocker und holte ein Päckchen Zigaretten aus der Jackentasche.
Rauchend saß er da und starrte, schweigend in den Raum. Ein paar Männer saßen in dunklen Ecken und warfen verstohlene Blicke in seine Richtung. »Eine Affenschande«, murmelte einer, doch der Inspektor ging nicht darauf ein. Er war kein Unmensch.
Der Affe trug, als er zurückkam einen Zylinder und ein, wenn auch billiges, doch elegantes Jackett. Mit unendlich traurigen, braunen Augen blickte nun auch er in den Raum. Ein paar von den Männern sahen jetzt auf und nickten ihm hilflos lächelnd zu. Der Affe atmete schwer, dann sagte er zu dem Inspektor: »Lassen Sie uns gähen.«
Draußen hatten inzwischen dunkle Gewitterwolken den Himmel verdunkelt. Der Affe und der Mensch gingen nebeneinander die Straße entlang. Das starke Tier mit hängenden Schultern, der kleine Inspektor gehobenen Hauptes, mit von Stolz geschwellter Brust.

»Ihnen«, sagte der Richter, »wird angelastet, durch Ausschank von Getränken in der Bar im vierten Bezirk des südlichen Sektors, gegen die Hygienevorschriften drei, acht und 17 des Hotel- und Gaststättengesetzes verstoßen zu haben. Weiterhin, dies ist, nach meinen Unterlagen hinlänglich belegt, verfügen Sie über keinerlei Bürgerrechte und sind vor mindestens drei Jahren illegal in dieses Land eingereist.«
Der Affe nickte.
»Was haben Sie dazu zu sagen?« – Der Richter fragte ihn gar nicht erst nach einer Verteidigung, der Affe hatte keine Rechte.
»Es stimmt, doch«, und er wollte fortfahren, ›kann ich nicht glauben, dass ich, ein denkendes, fühlendes Wesen, das ist wie Sie, Herr Richter, dass ich über keine Bürgerrechte verfügen soll, bloß weil ich ein Affe und keiner von euch Menschen bin.‹
Da unterbrach ihn aber der Richter schon und fragte: »Sie bekennen sich also schuldig?«
»Ich bin«, setzte der Affe an und wäre er nicht durch die richterlichen Worte: »Er bekennt sich!« unterbrochen worden, hätte er fortsetzen wollen, ›so schuldig wie Sie, Herr Richter, zu atmen und zu leben vor unserem gemeinsamen Herrn Jesus Christus und dem Vater und dem heiligen Geist.‹ , denn der Affe war, trotz seinem etwas wilden und rustikalen Äußeren, tiefgläubig. Er hatte die Bibel eingehender studiert als der Richter sein Bürgerrechtliches Gesetzbuch.

»Er bekennt sich!«, das Publikum applaudierte erleichtert. Es hatte schon gefürchtet, der Affe könnte womöglich juristische Winkelzüge wagen, seine Unschuld beteuern und dann – wie es in diesem System doch viel zu oft vorkam – schuldig sein und doch aus Mangel an Beweisen freigesprochen werden. Aber was war auf der anderen Seite von einem primitiven Affen schon zu erwarten?

Der Affe schwitzte in seinem Jackett, der Richter schrieb mit einem langen Bleistift das Urteil auf ein Stück knittriges Papier und das Saalpublikum tuschelte aufgeregt. Dann, der Richter räusperte sich, der Affe schloss die Augen und das Publikum verstummte, wurde das Urteil verlesen:
»Das Gericht, hier vertreten durch den ehrenwerten Richter Benedikt Fehlehr, hat am 13. Juli des Jahres Folgendes beschlossen. Die angeklagte Kreatur im vierten Verfahren des Tages wird in allen Punkten der Anklageschrift für schuldig befunden. Auf Grund der Tatsache, dass sie über keine Bürgerrechte verfügt besteht keine Möglichkeit das Urteil anzufechten. Die illegale Einreise in die konföderierte Republik bleibt folgenlos«, an dieser Stelle unterbrach der Richter sich selbst und schob kurz ein: »Wir sind hier schließlich keine Unmenschen.«, und fuhr dann fort, »der illegale Ausschank von Getränken, auch unchristlicher, alkoholhaltiger Gebräue unter Missachtung aller im Kodex des Hotel- und Gaststättengesetzes definierten Hygienevorschriften, hier weist das Gericht vor allem auf die Paragraphen 17 bis 31 hin, wird mit dem Tod durch Enthauptung geahndet. Das Urteil ist zur sofortigen Vollstreckung vorgesehen, dem zuständigen Herrn Inspektor von Werthfrey wird ein Kopfgeld von ingesamt 200 KR-Talern zugesprochen.«

Zwei Gorillas packten den Affen bei den Schultern, der Richter schlug mit seinem Holzhammer auf den Tisch als würde er dem Schuldspruch so erst zur Gültigkeit verhelfen und das Publikum aufgeregt, die Spannung der letzten viertel Stunde entladend, strömte nach draußen in den Vollstreckungshof. Hier war die Guillotine schon aufgebaut, die Klinge noch blutig und feucht (›Was wenn der andere Aids hatte?‹, dachte der Affe noch, ehe die Schneide niederfuhr).
Der Inspektor sprach, da er ein gläubiger und guter Mensch war noch ein Gebet zu dem toten Affen, bekreuzigte sich und nahm den Kopf an sich, um ihn bei der Gerichtskasse gegen seine Prämie einzulösen. Einen aus dem Publikum hörte er noch lachen, als er den Hof verließ: »Der scheiß Affe hat sich noch in die Hose gepisst! Überprimitiv!“

Sinn und Ziel

Natürlich sei es nur sinnbildlich zu verstehen. Wie auch sonst? Wenn ich also von den rostroten Flecken auf Deiner Seele spreche, von den Drachen in Dir, dann meine ich das nicht wörtlich. So wie ja auch diese ganze Geschichte von dem Aufbruch ins Unbekannte und die Annahme es gäbe da einen, den keiner kennte, einen der Geheimnisse mit sich trüge, von denen man nur ahnt, dass sie bedeutungsvoll sind, ohne Zweifel irgendeinen anderen Sinn ergeben müssen, als jenen nichtigen, den sie nach außen tragen.
Aber wie entsetzlich ist das denn, dass ich mich selbst hier im Du und im Unbekannten zu spiegeln suche? Welche Drachen, welche Erpel versuche ich zu (er)finden, da ich diese Zeilen schreibe? Welche Farbe, wenn nicht rostrot, soll meine Seele haben?

Ich arbeite für eine Behörde der Bundesrepublik Deutschland. Meine Aufgaben sind die akkurate Katalogisierung nicht nur von Menschen (geordnet nach Geschlecht, Rasse, Herkunft, genetischen Besonderheiten usf.) sondern auch die unserer Sprache. Ein Stab von Mitarbeitern steht mir zu Verfügung, diese Aufgabe zu bewältigen. Mein Kollege L. aus der Abteilung für Gebäude- und Fahrzeuginventarisierung pflegt zu sagen, dass wir, dass unsere Behörde, soetwas wie das Bewusstsein dieses Landes sind.
Im Grunde halte ich nicht viel von solchem Gerede, doch in diesem Fall muss ich (widerstrebend) zuerkennen, dass ein Funken Wahrheit darin liegen könnte, wenn es vielleicht auch eher das Unterbewusstsein ist, das wir verkörpern, wenn wir unser Land versuchen maschinenlesbar zu machen. ‚Valide auszuzeichnen‘, wie das in der schnatternden Sprache unserer Behörde heißt.

Die Behörde befindet sich in einer sogenannten Großstadt und ist unauffällig zwischen einem Betrieb zur Trinkwasserwiederaufbereitung und einem Institut für Energieforschung der hiesigen Hochschule gelegen. Ich selbst muss, wenn ich morgens mit dem Fahrrad hierher fahre zwischen 15 und 25 Minuten Weg einplanen, was für die von mir zu bewältigende Strecke eine durchschnittliche Fahrtzeit ist. Manchmal schaffe ich es so früh aufzustehen, dass ich auf halber Strecke bei einer Bäckerei anhalten und einen Kaffee trinken kann. Die junge Frau, die mich dort meistens bedient, ist – das geht aus den Behördenunterlagen hervor – alleinstehend. Ich bin ein bisschen in sie verliebt, wage es aber nicht ihr das zu sagen, obgleich ich – zwei Jahre älter als sie, von durchschnittlicher Statur und deutlich besser als sie verdienend – mir einbilde so bezeichnete ‚Chancen‘ bei ihr zu haben.

Wenn ich hier sitze, hole ich manchmal mein kleines, grünes Notizbuch hervor und beginne Aufzeichnungen wie diese hier anzufertigen. Meist sind es nur Sätze wie die oben: „Die vergorene Realität eines noch jungfräulichen Tages in mich aufnehmend, die Vergangenheit hinter mir lassend sitze ich da.“ etwa, oder: „Sticht auch ein gewisser Blauton in das feurige Licht Deiner Anwesenheit, Schöne, will ich mich doch noch einmal auf jenes ‚hic sunt dracones‘ der alten Seefahrer berufen und […]“ so weiter und so fort. Manchmal auch etwas weiterreichende Überlegungen zu unserer Gesellschaft, darüber was hier schief gelaufen ist.

Veröffentlichen kann ich das dann aber natürlich nicht, verfranste Realität.

here be drakes

Unerschlossene, vergilbte Landschaft. Feuerspeiendes Federvieh, nahtlos aufgereiht und verschlossen. Wie in ein altes Bild versetzt, stehen wir vor der Karte und starren ins Niemandsland. ‚Gefährlich‘, murmelt einer, den keiner kennt und die anderen nicken zustimmend. Die Gesandten (im Original ‚ambassadors‘, was auch soviel wie ‚Repräsentanten‘ bedeuten kann, Anm. des Übersetzers) folgen unserer Argumentation weitgehend, geben jedoch zu bedenken, dass die Inschrift „hic sunt dracones“ nur sinnbildlich zu verstehen sei. Der Unbekannte murmelt wieder etwas.

Gemeinsam mit den Gesandten schiffen wir uns ein. Die See ist unruhig und wir alle blicken sorgenvoll nach vorn. Einzig der Unbekannte wirkt unbekümmert. Warum er sich auf dieses Abenteuer einlässt weiß keiner, doch hat er seinen Beitrag für Fahrt und Proviant gezahlt und ist uns somit willkommen.