Tagebuch

Montag: Quantentheoretische Überlegungen angestellt. Wenn die Zeit nur eine Illusion ist, was ist dann die Materie? Unruhige Träume.

Dienstag: Viele Tränen, später Currywurst mit Pommes und eine Flasche Weißwein. Tag im Eimer. Traumlose Nacht.

Mittwoch: Die Nachricht vom Tod eines alten Freundes erreicht mich auf Umwegen, ich bin sprachlos. Grauer Staub strömt mir aus der Seele.

Donnerstag: Aufregende Träume über Seeungeheuer. Beim Kaffee beunruhigt mich eine Freundin mit Berichten aus dem Kaukasus. Wird der Krieg dort heiß, sagt sie, sind wir hier auch nicht mehr lange sicher.

Freitag: Ein schwerer Arbeitstag voll Schweiß und Ehre. Die Kollegen veralbern mich wegen meines theatralischen Auftritts, ich aber versäume keine Gelegenheit mich zu profilieren. Der Abend geprägt von Wein, Weib und Gesang. Traumloser, alkoholisierter Schlaf.

Samstag: Ausflug in den Stadtwald. Die Kinder freut’s, Eleonora und ich schweigen uns an. Es ist nichts mehr wie es war, seit diesem Sommer vor drei Jahren.

Sonntag: Im Café beschreibe ich P. die Ambrosiusfunktion. Er ist skeptisch, will sich die Sache aber einmal ansehen. Wilder Wind auf dem Heimweg.

Traumtagebuch (9)

Eine junge Frau ist dem Tode geweiht. Um ihr schlimme Schmerzen zu ersparen, beschließt ein Wissenschaftler, dass sie – an einen speziellen Apparat angeschlossen – eine Kupfermünze lutschen soll. Dadurch soll der Tod schnell und schmerzlos herbeigeführt werden. Britische Pennies seien für den Vorgang besonders gut geeignet, sagt er.

Noch aber ist Zeit. Wir liegen nebeneinander auf dem Fußboden, sie ganz ruhig, ich todtraurig. »Gut, dass die Spanier jetzt nicht hier sind.«, sagt sie. Ich weiß nicht wen sie meint und sage deshalb nichts. Das ganze Verfahren ist total illegal und kriminell.

Später wird sie auf eine Bahre gelegt und an metallene Apparaturen angeschlossen. Sie will zusammen mit einigen Büchern eingeäschert werden. Unter anderem den »Brüdern Löwenherz« , »Momo« und der Autobiographie eines Mannes der Böncher heißt. Welches davon wohl ihre Bibel ist? Ausdrücklich nicht mitverbrannt werden soll Joachim Gaucks Plädoyer »Freiheit«. Auch habe S. noch einige Bücher vorbeibringen wollen, aber das sei jetzt egal, sagt sie.

Zum Abschied küsse ich ihre Stirn, dann schaltet der Wissenschaftler die Geräte ein.

Wundersamer Strom des Lebens

Ich ist Vergangenheit und das ist gut. Ich ist eins, ist zwei oder auch drei und das ist egal. Morgen ist er ein Wanderer und dann auch wieder vergänglich oder gar die Vergänglichkeit selbst. (M. Lockerbey)

Einer hatte das Fenster geöffnet und einen hinausgestoßen. Vor Gericht hatte man befunden, dass er des Wahnsinns und nicht schuldfähig gewesen war. Deshalb lag er nun in einer Einrichtung, die die meisten Irrenanstalt, Klapsmühle oder auch den Affenstall nannten. Man hatte ihn mit gürtelartigen, flachen Bändern an ein Krankenhausbett gebunden, was ihm reichlich Zeit gab über seine Sünden nachzudenken. Die meiste Zeit aber war ihm bloß unglaublich langweilig zumute. Wie in einem Käfig für Hamster, Meerschweinchen, Ratten, Marder usw. gab es zu seiner rechten ein Wasserbehältnis mit einem Metallröhrchen, an dem er bei Bedarf saugen konnte. Zu seiner linken befand sich ein kleiner Schalter, den er mit der Nase erreichen konnte, um ein Radio anzumachen, das, wenn eingeschaltet, zu den meisten Tages- und Nachtzeiten Popularmusik spielte. Er konnte Popularmusik nicht ausstehen. Vor ihm an der Wand befand sich eine große Uhr mit Sekundenzeiger. Jeden Morgen und Abend, jeweils um sieben Uhr, kam ein Zivildienstleistender und fütterte ihn mit Brei. Er verabscheute Brei.

So zogen die drögen Sekunden ins Land und unser Held wurde älter und weiser. Alle paar Wochen tauchte ein Arzt bei ihm auf und erzählte von der Welt, wie sie draußen ihren Lauf nahm. »Martin«, sagte der Arzt dann zum Abschluss meist, »wenn Sie nicht langsam zu reden beginnen, kommen Sie hier nie wieder heraus.« Martin betrachtete dann die Uhr, den langen dünnen Sekundenzeiger und biss die Zähne zusammen. Dieser da sollte ihm sein Geheimnis nicht entlocken. Dieser nicht.
Im Dunkeln murmelte Martin dann meist Unzusammenhängendes, manchmal lauschten die Pfleger und Schwestern dann an der Tür und machten Notizen: »Ich ist Vergangenheit«, schrieben sie dann mit, »und das ist gut. Ich ist eins, ist zwei oder auch drei und das ist egal. Morgen ist er ein Wanderer und dann auch wieder vergänglich oder die Vergänglichkeit selbst.«
Es wurden Promotionsschriften über ihn verfasst, er war Studienobjekt geworden und schaute selbst nur nach den verstreichenden Sekunden.

Eines Tages kam der Arzt zu ihm und sagte: »Wir haben kein Geld mehr in diesem Land. Die Zivildienstleistenden, Pfleger, Schwestern, Ärzte und Medizinstudenten können sich nicht länger um Sie kümmern. Ich mache Sie jetzt los, dann sind Sie frei und können gehen.«

Die Straßen waren öd und leer, Martin hatte die Uhr mit dem stetig rotierenden Sekundenzeiger unter dem Arm und beschloss nach dem Meer zu gehen, wo er seinem Leben in einsamer Trunkenheit ein Ende setzen wollte. Die Schuldgefühle lasteten zentnerschwer auf seinen Schultern, dass es eine Tragik war ihm zuzuschauen, wie er da die Straße entlang trottete.
An einer Tankstelle tauschte er die Uhr gegen eine Flasche unprätentiösen Branntwein. Damit zog er weiter, bis er sich irgendwo an der französischen Nordküste in einer Höhle niederließ. Bei gutem Wetter konnte er von hier bis nach England blicken. Ein gutes Gefühl. »Martin«, sagte sich der unschuldige Attentäter da, »drüben in England, da kannst Du ein neues Leben beginnen.«
Mit diesen Worten entkorkte er die Buddel und soff sie in nur drei Zügen leer. Dann warf er sich in die Fluten und teilte mit gewaltigen Armen den Ärmelkanal.

Da sein Gott erbarmen mit ihm hatte, gewann er nach stundenlangem Kampf das rettende Ufer und eilte fort.

Martin Lockerbey, wie er sich jetzt nannte, begann ein neues Leben, heiratete eine Britin aus der Unterschicht und lebte glücklich bis an sein Lebensende.