Tränennass ist mir die Seele

Herz, Hirn, Augen, Atem sind von grauen Nebeln mir belegt. Tränennass ist mir die Seele. Ich will nicht länger dumm, nicht schrecklich sein.
Hab’s ehrlich versucht, mich zu bilden, zu reifen, zu leben; doch nun, da nicht länger jung, noch nicht endlich alt, verzweifle ich an meinen eigenen Augen, die überborden von gefrorenem Schein.
Rollende Rubel, Ruhm, Feuer, Verdammnis. Fortpflanzung: so laichgültig wie eben die vier oder zu wissen wie Wellen sich wiegen und ob Johann Wolfgang den Faust nun vor oder nach Ende des Ancien Régimes abgemischt hat.

Sehr geehrter Herr yx,

mein Name ist xx, ich bin 24 Jahre alt, habe vor kurzem meinen Master in International Business Management an der Milton-Friedman-Universität in Stockholm gemacht und bin auch sonst kein besonders gebildeter Mensch. Im persönlichen Gespräch mit Ihrer Kollegin xy habe ich erfahren, dass sie gegenwärtig einen Mitarbeiter im Bereich Effizienz-Management und Cost-Consulting suchen. Da ich mich im Rahmen meiner Master-Arbeit zum Thema “Efficency and Performance in Human Resources – An Approach to Develop More Fire-and-Hire-Acceptance in Central-European Societies” eingehend mit diesen Bereichen auseinander gesetzt habe und auch im persönlichen Umgang mit Menschen durch kalte Durchsetzungsfähigkeit, berechnendes Auftreten und mangelnde soziale Kompetenzen herausrage, passe ich meines Erachtens hervorragend zu dieser Stelle und Ihrem Unternehmen.
High-Performance ist für mich dabei nicht nur ein Schlagwort bei der Anleitung von Kunden und Kollegen, sondern natürlich auch für mich persönlich eine Selbstverständlichkeit. Wie Sie meinen beigefügten Zeugnissen und dem Lebenslauf entnehmen können, habe ich nicht nur mein Studium in Rekordzeit abgeschlossen, sondern nebenher auch noch diverse Trainee- und Internships bei international hochangesehenen Geldhäusern und Finanzdienstleistern absolviert. Sie können daraus schließen, dass ich auch mit chemisch-medizinischen Hilfsmitteln zur Steigerung meiner Leistungsfähigkeit Erfahrungen habe und insofern meine diesbezüglichen Möglichkeiten bereits vor Eintritt in Ihr Unternehmen einschätzen kann.
An Coal & Crushstone Capital gefallen mir besonders der hohe Leistungsdruck und die vielfältigen Aufstiegsmöglichkeiten ins höhere Management. Es ist immer meine Überzeugung gewesen, dass Leistungsfähigkeit und Selbstaufgabe Primärtugenden sind, die belohnt werden müssen.

Bitte schicken Sie mir, mit der Einladung zum Vorstellungsgespräch, auch gleich Ihre Gehaltsvorstellungen zu.

Hingebungsvoll,

xx

Kräftiges Kribbeln in der rechten Gesichtshälfte, Nerventotalausfall, Anomalie im Puls, plötzlicher Blutdruckabfall. Wirtschaftlicher Totalschaden, eigentlich von Geburt an. Nicht fürs Leben geschaffen, sondern für die Katz’.
Wie der Geruch eines Streichholz’ entflammend in der Dunkelheit: bist du. Flüchtig und schön und ich wünschte ich wäre du oder könnt’ dich beschützen oder wenigstens haschen.
Aber ich kann dich bloß wanken ((Ähnlichkeit mit dem englischen Ausdruck to wank – wichsen ist bekannt, aber unbeabsichtigt, einfach ignorieren!)) sehen, nicht weil du torkelst oder schwankst, sondern weil ich selber durch die schlaflose Nacht taumel.

Wetterbericht III

29. Oktober
Klarheit nur in Momenten der Verzweiflung, dann aber zu schwach, irgendetwas zu fixieren.

30. Oktober
Kafkaeske Erfahrung: Um ein Formular ausfüllen zu lassen gehe ich zum Arzt. Nach einigen obligatorischen Fragen (“Hören Sie Stimmen? Haben Sie Wahnvorstellungen?” – “Nein, so schlimm ist es noch nicht.”), die vermutlich jeder Patient zu hören kriegt, werde ich verkabelt: Je zwei Klemmen an den Beinen und Armen, an der Brust sondiert. Die elektrische Leitfähigkeit meines Herzens wird geprüft. Ein wie widerstandsfähiges Bauteil bin ich?

1. November
Verblöde zusehends. Doppelpunkt. Klammer auf. Projektion von Gefühlen in/auf einen extravagant-reduzierten Zeichensatz. Seltsame Entwicklung.
Doppelpunkt, Klammer auf: Zwei Byte Traurigkeit.
Semikolon, Klammer zu: Zwei Oktette Vertrauen.
Doppelpunkt, kapitales D: 16 Bit Frohsinn.

Traumtagebuch (11)

Zuerst verliere ich einen meiner Weisheitszähne: er ist lang wie ein Geweih, an der Wurzel ebenso verzweigt und schwarz wie Holzkohle. Ich halte ihn neben meinen Kopf und bin ganz überrascht, dass er länger als mein Schädel ist. Dann löst sich ein weiterer Weisheitszahn. Er ist nicht ganz so lang wie der erste, aber ebenso schwarz und porös. Dafür glüht es in ihm (wie in einem verglimmenden Stück Kohle eben). Ich will zum Zahnarzt, die anderen Zähne prüfen lassen, da merke ich, dass ja ein Feiertag ist. Ich muss in die Uniklinik, Notaufnahme.
Schon bin ich da. Aber man kann mir nicht helfen und sagt nur: suchen sie sich einen Arzt auf ner Station. Als ich durchs Krankenhaus eile, beginnen weitere Zähne zu bröckeln. Anders als die prachtvollen Weisheitszähne sind sie klein und mickrig, dafür aber deutlich weniger schwarz. Wie soll ich das alles meiner Mutter erklären? Ich versuche einige der Zähne zurück zu drücken, aber das macht es nur noch schlimmer.
Ich denke, dass selbst meine Schneidezähne jetzt nicht mehr vollzählig sind und trage Hände voll davon durch ewig lange Krankenhausflure.