Der Wesir mit den roten Haaren

Der König trug ein Kleid von feinstem Celophan und einen Aluminiumhut, der seine Gedanken vor der Satellitenstrahlung fremder Mächte schützen sollte. Auch sein Wesir, der in einen grauen Anzug aus Nylonfasern gehüllt war, trug einen solchen Hut.
Gemeinsam gingen die beiden durch die langen, sonnendurchfluteten Gänge des hoheitlichen Palastes. Kein Staubkorn gab es hier, so rein, so sauber war alles. Und die Gärten solltest du ersteinmal sehen. Riesige Springbrunnen mit Wassern in allen Farben des Regenbogens wurden hier von Sklaven aus aller Herren Ländern mit Hilfe von pneumatischen Pedalgelenken betrieben. Palmen wuchsen am Strand und wer wollte, der mochte in den Skilift nahe dem Fichtenwald steigen und wurde durch ein Rohrpostsystem auf den höchsten Wipfel des nahen Kalbsdarmgebirges gehievt, von wo er hinabrodeln oder -skilaufen konnte.
„Was soll ich bloß mit meinem ganzen Reichtum?“, fragte der König den Wesir, denn die Herrlichkeiten ödeten ihn an.
Der Wesir, der rote Haare und auch sonst einen schlechten Charakter hatte, sagte: „Dankt ab, König, und veranstaltet eine Lotterie unter all Euren Untertanen, wer Euch beerben soll!“
Das gefiel dem König und er ließ eine Million Rubbellose in der Palastdruckerei fertigen, denn soviele Bürger gab es im Reich des gelangweilten Königs.
„Lass proklamieren“, sagte er zu seinem Wesir, „dass derjenige der oder dessen Eheweib das Los mit den drei Kronen in einer Reihe freirubbelt, der neue König des ganzen Landes sein soll. Ich ziehe mich ins Exil zurück und widme mich der Schmetterlingsforschung.“

Und so geschah es, dass die königliche Post eine Nacht und einen Tag Sonderschichten fuhr und Rubbellose im ganzen Land verteilte. Der Wesir indes stand auf der höchsten Zinne des königlichen Schlosses und rieb sich die Hände. Denn natürlich hatte er das Gewinnerlos schon im Laufe des Druckprozesses an sich genommen und hielt es nun in der rechten Innentasche seines Morgenmantels verborgen. Seine roten Haare glitzerten im Licht des Mondes und zeugten von seiner hinterhältigen Gesinnung. Von Anfang an hatte er den König in dieser Sache falsch beraten und nun stand er kurz vor dem Thron. Unten im Garten strampelten sich die Sklaven an den pneumatischen Brunnenanlagen ab.

Bald waren alle Lose verteilt und um Punkt zwölf Uhr Mittags rubbelte das Volk in den Amts- und Wirtsstuben, in den Berg- und Backwerken los, als ginge es ums Leben. Auch der Wesir rubbelte, im Schatten einer großen Kokospalme sein Los frei. Drei Kronen in einer Reihe. So eine Überraschung.
Als er das dem gelangweilten König zeigte, staunte der nicht schlecht und sagte dann: „Herzlichen Gückwunsch, mein lieber Wesir, einen besseren als dich könnte ich mir auf dem Thron kaum denken.“ Dann zog der König seinen herrlichen, purpurroten Celophanbademantel aus, tauschte ihn gegen den einfachen grauen Morgenmantel des Wesirs, übergab dem auch noch seinen Aluminiumhut und den königlichen Zahnstocher und zog sodann, so leichtfüßig wie noch nie in seinem Leben, in die Welt hinaus. Der Wesir wurde König. Kein guter, aber auch kein schlechter, sondern ein rothaariger. Eine Moral von der Geschichte gibt es nicht.

Noch keinen Sommer

Drei Menschen sitzen auf einer Parkbank. Einjeder trägt einen schweren Helm aus Plastik, Plexiglas und Schaumstoff. Mit einem Mal fangen alle drei Feuer und rennen schreiend auf und ab. Was ist geschehen?
Altpersisches Lateral

Wir hatten den ganzen Abend und die halbe Nacht über dem Tricktrack-Brette vergrübelt, um danach in intensiven, traumlosen Schlaf zu sinken. Als ich am nächsten Morgen erwachte war sie bereits gegangen. Das Geld legte ich also auf die Fensterbank und ging auf die Walz.
Oh nun, hier im Regionalexpress von Minden nach Paderborn, fühlte ich mich endlich wie ein rechter Mann. Was mir an Respekt fehlte, wusste ich anderweitig auszugleichen, denn die Taschen hatte ich voll Klimpergeld.
So zog ich also Woche um Woche, Monat um Monat herum. Lernte hier Neues, vergaß dort Altes und hatte zu guter Letzt eine dieser durchschhnittlich-drögen, deutschen Bildungsromanzen hinter mir, wie sie eh und je kanonisiert worden sind. Einzig das Glück fand ich nie wieder so, wie an jenem Abend beim Tricktrackspiel mit der schönen Hannah, auch in späteren Jahren nicht. Dass dies so vergängliche, so flüchtige Vergnügen ein bezahltes war tut der Sache, denke ich, keinen Abbruch, denn ob so oder anders: Die Jugend schöpft die Zuversicht doch stets aus der Zukunft. Zumindest habe ich das immer geglaubt.
So habe ich mich nun dazu durchgerungen sie wieder zu suchen.

Die Gassen meiner Heimatstadt sind so eng und verwunden wie schon vor 30 Jahren. Torbögen, Efeuranken, das ganze kleinbürgerliche Gedöns. Freude bereitet mir einzig ein Schwalbennest in der Burgmauer am Westfalengraben. Es ist gleich am Gehsteig und man kann die kleinen Köpfe der Jungvögel sehen, wie sie voll Neugier in die Welt blicken.
Zwei Straßen weiter entdecke ich die Schwalbenmutter blutend im Rinnstein. Vermutlich von einer Katze totgebissen und liegengelassen. Ich bereite ihrem Leid mit meinen schweren Stiefeln ein, wie man so sagt, Ende.
Auf dem Weg zum Café Mondaine muss ich immerzu an die kleinen Schwalbenjungen denken, die jetzt in ihrem lehmigen Nest in der Burgmauer hocken und schreien. Das Mondaine wird immer noch von Elsa betrieben, einer dicken Hauswirtschafterin, die sich sogar noch an mich erinnert: „Hab nie wieder so’n unsicheres Bürschchen jesehen wie dich.“, lacht sie, „Hast dich aber jut jemacht.“ Sie erinnert sich auch noch an Hannah. Natürlich tut sie das:

Zwei Wochen nach ihrem 18. Geburtstag packt Hannah ihre kompakte aber geräumige Reisetasche und lässt ihre von dieser Situation überforderten Eltern zurück. Als sie im Café Mondaine aufschlägt, weiß Elsa zunächst nicht, was sie mit ihr anfangen soll. Ja, sie ist ein hübsches Mädchen, aber auch zart und unberüht. Ist das hier das Richtige für sie? Zwei Wochen vergehen und dann tauche ich auf. Ein „unsicheres Bürschchen“ und Elsa sagt: „Mit dem kannst du’s mal versuchen. Danach sehen wir weiter.“
Danach sehen die beiden weiter und Hannah arbeitet noch ein Jahr im Café Mondaine. Dann kommt ein nicht ganz so unsicherer Gast. Sie gehen in eben das Zimmer, in dem auch ich mit ihr gewesen bin. Zwei Stunden später geht der Gast und Hannah ist tot. Den Kerl haben sie nie gekriegt.

Ich bin erschüttert als ich die Geschichte höre. In fremden Gedanken gehe ich durch den Frühlingsabend den selben Weg zurück den ich gekommen bin. Als ich wieder an dem Schwalbennest vorbeikomme bleibe ich stehen. Die Kleinen, denke ich, haben keine Chance. Also breche ich den Verputz des Nestes auf, schnappe mir die panisch quietschenden Küken und stopfe sie in meine Manteltasche. Vielleicht kann ich sie großziehen, bis zum Sommer. Danach werde auch ich gehen können.

Verlaufen

Der dicke Kuno und ich hatten beschlossen unserem Dasein mehr Struktur zu verleihen. Also kauften wir je einen grauen Anzug, ein edles Feuerzeug und drei Zigarren. Jeden Tag wollen wir nun, sprach der dicke Kuno, eine Zigarre schmauchen. So gelangen wir zu mehr Struktur. Dazu tragen wir unsere grauen Anzüge.

Also standen wir drei Tage lang jeden Morgen früh auf, legten unsere feinen grauen Anzüge an und rauchten Zigarre. Nach den drei Tagen verlief das Projekt sich wieder.

Ratsantrag 34/11

Unschön ist es anzusehen, wie der Bisam sich durchs nasse Gras bewegt. Ein schiefer Zahn hängt ihm aus dem von Fäule stinkenden Maul, sein unästhetischer, langer Schwanz ist von einer Kruste aus Dreck und öligem Sekret umhüllt. Sieh, nun setzt er seine Marke, ein stinkendes Häufchen etwas. So hält der Bisam sich unliebsamen Besuch vom Leib; denn wer wollte schon über solche Grenzen schreiten?
Später am Tag sitzt der Bisam schwitzend in seiner Burg, die er aus Röhricht und anderem Gewächs errichtet und blickt über seinen Tümpel. Das, denkt er dann, ist ein wunderbarer See. Dort drüben wachsen die herrlichsten Seerosen und hier der feinste Schilf der Welt. Wenn ich erstmal alt bin, verkauf ich den Schilf und sitze hier auf meiner Burg und schaue zum andern Ufer hinüber.

Doch das lassen wir nicht geschehen: Stattdessen möge der Beschluss gefasst werden den Bisamtümpel zuzuzementieren und dort eine Voliere zu errichten. Der süße Gesang von Nachtigall, Specht und Eule wird uns besser gefallen, als das schäbige Grunzen des Bisams.

Wetterbericht X

26. April 2013
In die Leere hineinleben. Leeres in eine leere Welt denken. Liebe ins Leer lenken. – Auflösung.

28. April 2013
Rückblickend kann ich nur sagen, dass ich mir an jenem 5. März nichts habe zu Schulden kommen lassen. Ich habe einfach nur dagesessen und in die Landschaft geschaut und auf den kleinen Hügel, der genau so war, wie er sein sollte (alle die was anderes behaupten, sind entweder pietät- oder hirnlos).
Und wenn der werte Herr, wenn der sich darüber zu beklagen hat, dass da einer rumlungert, dann soll der einfach mal nach dem Verbleib seiner eigenen Nase fragen. Die hatte zu diesem Zeitpunkt ja offenkundig auch nichts besseres zu tun, als unnötig Sauerstoff zu dioxidieren.

7. Mai 2013
Die Luft steht still, die Moleküle haben sich irgendwie so ineinander verschränkt, dass jetzt kein vor und zurück mehr möglich ist. Zunächst merkt man das am aussetzenden Atem, dann aber auch beim Versuch der Bewegung. Nur der Verstand geht noch, aber die Übersetzung von Gedanken in die Außenwelt (in Aktivität und Sprache) ist komplett zum Erliegen gekommen.