Die Tage werden jetzt wieder länger, denke ich unvermittelt und ohne guten Grund, während ich auf dem Rad durch Dunkelheit und schlammige Pfützen pflüge. Es ist zwei Uhr morgens und richtig kalt. Der Reißverschluss meiner Jacke ist irgendwann im Herbst kaputt gegangen und entsprechend sind Hals, Brust, Nieren ungeschützt der eisigen Nachtluft ausgesetzt. Keinen Schal, keine Mütze. Zumindest zwei dünne Handschuhe habe ich. Trotzdem räudig. Noch fünf Kilometer hinab ins Tal.
Dort liegt sie unter ihrer alten Pferdedecke und stirbt. Der Sterbebegleiter hat mich angerufen und gesagt, dass es jetzt an der Zeit ist Abschied zu nehmen. Das hat er so gesagt. Als ginge man auf den Bahnsteig, sagte: „Bis bald, Mama“, und lüftete dann, ein kleines Tränchen verdrückend, ein weißes Taschentuch mit Monogramm, da der Zug sich allmählich in Bewegung setzt. Nicht als läge sie da unter ihrer Pferdedecke im Kalten. Ich seh‘ es vor mir, wie ihr Atem sich in der kalten Luft bricht. Darum bin ich aufs Rad gestiegen, hab mich auf den Weg gemacht, die 60 Kilometer bis E. zu fahren und jetzt sind es nur noch drei Kilometer hinab ins Tal.
Der Mond steht voll am Himmel, am Straßenrand schimmern matschige Schneereste. Es geht jetzt die Serpentinen hinab, vorbei am freistehenden Haus der Bergers, dem ersten kleinen Vorposten unseres Dorfs. Es ist weihnachtlich geschmückt. Hübsch, denke ich und vergesse für einen kurzen Augenblick meine Mama unter der Pferdedecke. Ich weiß gar nicht, ob die Bergers hier noch leben. Zwei Kilometer noch hinab ins Tal.
Hier im Dorf sind alle Häuser geschmückt und auf dem Anger steht ein großer Weihnachtsbaum, bunt behangen wie jedes Jahr. Als ich klein war, haben beim Schmücken immer alle mitgemacht, das ganze Dorf. Heute, hat Mama mir einmal erzählt, machen nur noch wenige dabei mit. Die Leute haben keine Zeit mehr. Aber wenn ich mal Kinder hätte, hat Mama sich dann vorgestellt, dann könnte sie immer mit denen da hin. – Pustekuchen.
Das Rad lehne ich an die Hauswand, hole meinen Haustürschlüssel (ich habe ihn seit ich sechs bin und ihn an einem Stoffband um den Hals hängen hatte) aus der Tasche hervor. Leise schließe ich auf. Es ist dunkel und die Küche, die man hier gleich durch die Haustür betritt, liegt kalt und feindlich vor mir. Die Schuhe zieh ich aus, suche den Schalter und mache das Licht an. Ich habe Angst, sie aufzuwecken, bin so leise wie es nur geht.
Es ist einen Monat her, dass ich mich her getraut habe und jetzt wo ich hier stehe, in der Nacht auf den 24. Dezember, da fühle ich mich wie ein Einbrecher. Ich schleiche auf leisen Sohlen zum Wohnzimmer, wo das große Krankenbett steht. Leise drücke ich die Klinke hinunter, lausche durch den dünnen Schlitz hinein, höre ihren schwachen Atem. Ich schließe die Tür wieder, es ist jetzt drei Uhr morgens und ich will sie nicht wecken, wie sie da unter ihrer Pferdedecke liegt.
Zurück in der Küche schaue ich, viel zu aufgeregt, mich schlafen zu legen, in die Schränke, hole eine uralte Packung gemahlene Mandeln heraus, Eier aus dem Kühlschrank, Zucker, Zimt. Das braucht man doch so ungefähr für Zimtsterne, oder? Ich stelle mir vor, wie die Sonne aufgeht und ich mit dem Teller mit frischen Zimtsternen dastehe und frohe Weihnachten wünsche und wie wir dann über alles sprechen, was vielleicht noch zu besprechen ist.
Natürlich misslingen die Zimtsterne, werden zumindest keine Sterne, sondern eigentümlich unförmige Klumpen. Aber was macht das schon, solange sie schmecken. Während die Zimtklumpen im Ofen backen, spüle ich ab und denke jedes mal, wenn ich das Wasser durch die alten Leitungen laufen lasse kurz, dass Mama aufwachen könnte. Ich spüle und weine dabei vor Angst. Schließlich hole ich die Klümpchen aus dem Ofen, stelle das Blech über dem Spülbecken ab. Sie riechen gut, wie richtige Zimtsterne, nur eben in kümmerlich.
Draußen blaut es schon ein bisschen, bilde ich mir ein. Aber vermutlich ist das Quatsch, denn es ist gerade mal halb fünf und der Mond steht noch in voller Größe am Himmel. Am Küchentisch übermannt mich immer wieder der Schlaf und ich träume ganz leise von früher und im Traumecho ist alles noch gut.
Gegen acht (und jetzt dämmert es wirklich) lege ich die Plätzchen auf einen Teller und den Teller auf das alte Holztablett, das wir hier schon vor 20 Jahren hatten. Von draußen hole ich einen kleinen Tannenzweig, den lege ich mit auf das Tablett und eine Tasse schwarzen Tee mache ich, den mag sie am liebsten. Eine winzige Bienenwachs-Kerze finde ich auch noch und stelle sie dazu, dass es schön aussieht.
Damit gehe ich also zur Wohnzimmertür, die ich wieder ganz leise öffne, um erst mal vorsichtig zu lauschen, ob ich ihren Atem noch hör‘.
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